Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
Vom Netzwerk:
Dankbarkeit stand in ihren Augen.
    Ich zwinkerte ihr zu: „Wozu hat man einen großen Bruder?“
    Wir frühstückten wie üblich unter dem Balkon. Es versprach, ein heißer Tag zu werden, doch hier im Schatten war es angenehm. Ich betrachtete Annabell gedankenversunken, während sie Butter auf ein Croissant strich. Nicht die Aussicht, nicht die duftende Flora des Gartens, nicht die klare Meeresluft, sondern diesen Anblick würde ich morgens am meisten vermissen, wenn ich bei Samuel’s mein Frühstück einnahm.
    Annabell schienen meine Überlegungen nicht zu entgehen.
    „Was ist mit Dir? Du siehst traurig aus.“
    „Ach nein“, leugnete ich meine Gemütslage, „das muss die Erschöpfung sein.“
    Doch irgendwann musste ich die Karten ohnehin auf den Tisch legen. Ich konnte es nicht länger hinausschieben.
    „Annabell, es gibt da etwas, dass wir zu besprechen haben“, sagte in geschäftsmäßigem Ton, ganz so als säße ein Klient vor mir.
    „Was ist es denn? Du klingst so ernst.“
    „Ich muss zurück nach Boston.“
    So. Jetzt war es heraus.
    Doch Annabell verstand nicht.
    „Ja natürlich“, sagte sie. „Das weiß ich doch. Ich dachte, Du fährst vielleicht erst heute Abend.“
    „Nein, was ich meine ist: Ich muss dauerhaft zurück nach Boston. Diese Woche hier in South Port war ein ganz wundervoller Urlaub und ich habe sie wirklich genossen. Aber ich kann nicht hier leben. Mein Beruf … Die Kanzlei …“.
    Annabell wurde blass, fasste sich aber sogleich und entgegnete: „Aber der Weg ist doch nicht so weit. Das hast Du selbst gesagt.“
    Unbeirrt fuhr ich fort: „Ich werde nicht sehr oft die Zeit haben, hierher zu kommen. So sehr ich es mir auch wünsche. Mein Tag im Büro endet meist erst um zehn Uhr abends. Am Samstag bin ich regelmäßig auch beschäftigt. Das lässt sich nicht ändern, wenn ich in der Kanzlei aufsteigen will. Ich könnte allenfalls ab und an am Wochenende vorbeischauen. Sonst müsste ich mein Leben in Boston aufgeben, die Leute, mit denen ich befreundet bin. Du siehst, ich kann meine Aufgaben als Vormund einfach nicht ordnungsgemäß erfüllen. Das musst Du verstehen.“
    „Aber …“, Annabell überlegte kurz. „Ich könnte doch auch in Boston wohnen. Ich könnte die Schule wechseln und bei Dir wohnen.“
    Annabell bei mir. Meine eigene kleine Bostonerin jederzeit verfügbar. Es war eine so verlockende Vorstellung. Aber es war Annabell gegenüber nicht fair.
    „Das geht doch nicht. Was wäre das für ein Leben für Dich? Du würdest aus Deiner gewohnten Umgebung gerissen. Weg von Deinen Freunden, von Onkel Charlton, vom Reverend, weg aus dieser Stadt, in der Du aufgewachsen bist. Und Du wärst den ganzen Tag allein. Am Wochenende auch oft. Es funktioniert einfach nicht. Ich werde mit dem Richter sprechen. Wir müssen uns eine andere Lösung für Dich überlegen.“
    „Aber ich will keine andere Lösung. Ich …“
    Annabell sah zunehmend verzweifelt aus. Es brach mir beinahe das Herz. Wie konnte ich sie hier zurücklassen? Ich wollte sie an mich reißen und nie wieder los lassen.
    Überraschend fasste Annabell sich.
    „Vielleicht hast Du recht .“
    Ich weiß nicht, was schlimmer war: ihre Verzweiflung oder ihre Zustimmung. Hatte ich wirklich recht ?
    „Du musst zurück nach Boston, das verstehe ich. Aber …Du musst doch nicht gleich nach dem Frühstück fahren. Bleib doch bitte noch heute. Noch diesen einen Tag. Wir gehen an den Strand. Du machst noch einen Tag Urlaub. Und heute Abend fährst Du nach Boston. Was meinst Du?“
    Wie konnte ich diesen Vorschlag ablehnen? Ihr Angebot bot mir die perfekte Entschuldigung, meine Abreise noch für eine kurze Zeitspanne hinauszuschieben. Was konnte es schon schaden? Ich war eine Woche hier gewesen. Da machten ein paar Stunden mehr auch keinen Unterschied.
    „In Ordnung. Warum nicht. Aber nach dem Frühstück packe ich erst meine Sachen zusammen.“
    „In Ordnung“, lachte sie, „das sind ja nicht viele.“

41.      Kapitel

 
 
    Unser kleiner Strand war menschenleer wie immer. Nur eine Möve stakste durch den Sand in der Nähe der Wasserlinie und pickte hier und da im Boden. Kurz darauf kam ein zweiter solcher Vogel vom Meer herangeflogen und gesellte sich zu dem Ersten. Es mochte das Mövenpärchen sein, das ich schon zuvor hier gesehen hatte. An diesem Tag flogen die Möven jedoch nicht scheu davon, als wir uns näherten, sondern leisteten uns still Gesellschaft.
    Wir breiteten unsere Badetücher nebeneinander

Weitere Kostenlose Bücher