Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
am landwärtigen Rand des Strandes aus, wo der übermannshohe Küstenfels eine hufeisenförmige Sandbucht von etwa acht Metern Breite und sechs Metern Tiefe bildete. Rechts von unserem Liegeplatz pflanzte ich einen großen dunkelblauen Sonnenschirm mit sandfarbenen Streifen, der uns vor der prallen Mittagssonne schützte.
Annabell befreite sich von ihrem um die Brust gewickelten Pareo und ließ sich auf ihrem Badetuch nieder. Sie trug einen auberginefarbenen Bikini, den ich noch nicht an ihr gesehen hatte. Ihr Anblick verschlug mir einmal mehr den Atem. Sie erschien mir noch schöner als bei unserem ersten Strandausflug. Konnte es sein, dass sie an Schönheit zunahm, je häufiger ich sie sah oder je länger ich sie kannte oder blieb sie dieselbe und nur meine Haltung zu ihr änderte sich?
Für etwa eine Stunde lagen wir in der Mittagshitze unter unserem Schirm. Selbst durch den Stoff hindurch brannte die Sonne. Annabell schmökerte in einem Roman, ich blätterte in einem Finanzmagazin und warf immer wieder einen verstohlenen Blick nach links, um mir Annabell unauslöschlich ins Gedächtnis zu brennen. Es war töricht. Je früher ich sie vergessen hätte, desto besser könnte ich wieder mein gewohntes Leben aufnehmen. Aber ich konnte nicht widerstehen. Ich musste jeden Augenblick auskosten.
Nachdem wir uns schließlich, der Hitze überdrüssig, in der See ausgiebig abgekühlt hatten, legten wir uns wieder nebeneinander auf unsere Tücher, um zu trocknen. Nach einer Weile neigte Annabell den Kopf zu meiner Seite, so als wolle sie etwas sagen, doch schon blickte sie wieder in das von der Sonne durchströmte Blau des Schirms. Dieser Vorgang wiederholte sich noch zwei weitere Male in ähnlicher Weise.
Ich konnte meine Neugierde nicht im Zaum halten:
„Annabell?“
„Ethan, ...“.
Sie zögerte und sah weiterhin zum Schirm hinauf.
„Ja?“
„Findest Du mich eigentlich hübsch?“
Du bist das hübscheste Mädchen auf der ganzen Welt, wollte ich sagen.
„Ja …, schon …“, sagte ich stattdessen, „Du bist ein hübsches Mädchen.“
„Und Du magst mich?“
Ich bete den Boden an, auf dem Du gehst, dachte ich.
„Natürlich mag ich Dich, Annabell.“
„Und was stimmt dann nicht mir?“
Nun endlich wandte sie den Kopf zu mir.
„Was meinst Du?“
„Warum gehst Du weg von hier? Warum lässt Du mich hier zurück? Warum magst Du mich nicht genug, um bei mir zu bleiben?“
Zwei einsame Tränen liefen über ihre Wangen. Es war schrecklich. Ich konnte es nicht ertragen.
„Annabell, Du …“, ich strich die Tränen aus ihrem Gesicht. „Du bist wunderschön. Für mich bist Du das hübscheste Mädchen, das ich mir vorstellen kann.“
So, nun war es gesagt. Ich hätte es dabei belassen müssen, doch einmal begonnen, wollte, nein, konnte ich nicht mehr aufhören. Die Worte, die so lange auf meiner Zunge gelegen, die mir den Hals verstopft und mir die Luft zum Atmen genommen hatten, bahnten sich mit unwiderstehlicher Gewalt ihren Weg:
„Doch, Annabell, Du bist nicht nur hübsch! Wenn man Dich kennenlernt, … Du bist klug, in vielerlei Hinsicht bist Du Deinem Alter weit voraus. Du hast ein weites Herz. Darin bist Du den meisten Menschen jeden Alters weit voraus. Du hast Humor, Du bist charmant, … schlagfertig. Muss ich noch weiter machen? Wenn Du nicht meine kleine Schwester wärst, und ich nicht Dein Vormund wäre, der seine Zulassung als Anwalt verliert und damit seinen Job und ins Gefängnis kommt, kurzum: Wenn die Umstände anders wären, als sie nun einmal sind, dann könnte ich für nichts…“
Weiter kam ich nicht. Annabell schloss meinen Mund mit ihren Lippen. Sie rückte näher zu mir, schlang ihren Arm um mich und zog mich an sich.
Während die Realität oft hinter der Fantasie zurückbleibt, waren Ihre Lippen noch wunderbarer und weicher, als ich sie mir jemals ausgemalt hatte. Sie bewegten sich zart über die meinen und ich konnte nicht anders, als diesen sanften Kuss zu erwidern, Annabell mit meinen Lippen zu streicheln, zu umarmen.
„Ich liebe Dich, Ethan, ich liebe Dich so …“
„Oh, Annabell …“
Ein Hochgefühl erfasste mich. All die aufgestauten Emotionen brachen sich Bahn, ließen sich nicht mehr aufhalten. Das also war es. Konnte es noch eine Steigerung geben?
„Ich habe mich nie übermäßig für einen Jungen interessiert, nie für jemanden aus den höheren Klassen geschwärmt, wie Cathy und die anderen. Doch als wir uns im Diner begegnet sind … Ich konnte ja nicht
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