Annas Erbe
Regentonne, in die ein Strahl aus einer Regenrinne plätscherte. Immer wieder zerriss ein Windstoß den Strahl in tausend Tropfen.
Thann klingelte. Licht ging hinter dem Fensterchen an, das in die Tür eingelassen war. Eine kleine, runzelige Frau öffnete. Der Kripobeamte schätzte sie auf mindestens achtzig Jahre. Bläuliches, verwaschenes Schürzenkleid, weißes, ungekämmtes Haar, braune, mit Lammfell gefütterte Pantoffeln.
Sie führte ihn ins Haus. Die Decke war niedrig. Es roch nach Essen, und es war warm. Die Alte führte ihn in ein Zimmer, in dem der Fernsehapparat lief. Sie schaltete den Ton ab. Das Bild lief weiter. Eine dieser Quizsendungen für alte Leute.
Thann zeigte ihr die Zeichnung, und sie erkannte ihren Sohn. Ein so bestialischer Fall ist mir noch nie begegnet.
»Günther«, sagte sie leise.
Thann erklärte, ihr Sohn sei ermordet worden, und er habe den Auftrag, den Mörder zu suchen. Ob sie wisse, wer seinen Tod gewünscht haben könnte. Die alte Frau begann zu weinen. Thann wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Scheißjob. Am liebsten wäre er sofort wieder gegangen.
Dann machte sie Tee und erzählte von der Kindheit ihres Sohnes. Zunächst sei er ihr ganzes Lebensglück gewesen. Doch dann sei er ein recht aufsässiger Junge geworden, der oft widersprochen habe. Schließlich habe er sich gar nichts mehr von ihr sagen lassen. Als er sich mit Anarchisten und Hausbesetzern eingelassen habe, sei ihr klar geworden, dass es mit Günther ein schlimmes Ende nehmen müsse. Wie oft habe sie ihm abgeraten von dieser Freundin. Eine Frau mit drei Kindern, und er selbst war nur ein Student. Er hätte ganz andere haben können, Töchter aus reichem Hause. Sie wolle gar nicht daran denken, was dann aus ihm hätte werden können.
Wieder brach Eichs Mutter in Tränen aus. Minutenlang schluchzte die alte Frau vor sich hin, am ganzen Körper bebend. Sie schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch. Dann starrte sie lange auf einen Punkt, irgendwo zwischen Thann und dem Adventskranz, der auf dem Tisch stand. Ihre Hände bearbeiteten das Taschentuch.
Thann fragte sich, ob sie es bemerken würde, wenn er einfach das Haus verließe. Doch dann beruhigte sie sich und fuhr fort in ihrem Drang, sich dem völlig Fremden mitzuteilen. Dass ihr Günther ein Mörder sei, habe sie nie geglaubt. Dieses Flittchen sei selbst an ihrem Tod schuld gewesen.
»Sie meinen Frau Korfmacher?«, fragte Thann. Mordfall Korfmacher.
»Diese Anna, ja. Die hat's doch mit jedem getrieben, dieses Flittchen. Freie Liebe, Kommunismus und so. Die hat sich nicht wundern brauchen, dass einer sie totmacht. Ich will nicht sagen, dass sie's verdient hat. Aber ein Wunder war's nicht, oder?«
Schöne Leiche, klarer Fall.
»Haben Sie sie gekannt?«
»Nein, aber der Günther hat mir viel erzählt, damals. Immer wenn er Kummer hatte, ist er zu mir gekommen. Dafür war die alte Mutter gut. Betrogen hat sie ihn, über Monate ist das gegangen. Und ich hab' dem Günther immer wieder gesagt: Vergiss das Flittchen. Andere Mütter haben auch schöne Töchter, hab' ich gesagt. Und saubere. Aber der Günther hat halt nicht auf mich gehört.«
Mehr und mehr kam die Alte jetzt in Fahrt, froh, einen Zuhörer zu haben. Sie fragte Thann, ob er einen Likör wolle. Er nahm an, obwohl Süßes sonst nicht nach seinem Geschmack war. Im Handumdrehen standen zwei kleine Gläser und eine Flasche auf dem Tisch. Braunes Kräuterzeug.
Flittchen. Thann dachte an Corinna.
»Freude hat mir der Günther keine bereitet, als er älter war. Aber ein Mörder war er nicht. Das müssen Sie mir glauben. Ein anderer hat das Flittchen totgemacht, der auch eifersüchtig war. Und dann haben sie es meinem Sohn in die Schuhe geschoben. Mein Günther hat oft ausbaden müssen, was andere eingebrockt haben, schon auf der Schule.«
Sie kippte ihren Likör mit einer Bewegung, die Übung verriet. Thann tat es nach. Das Zeug klebte zwischen Zunge und Gaumen. Mutter Eich goss nach. Erst sich, dann ihm.
»Haben Sie eine Idee, wer der wirkliche Mörder gewesen sein könnte?«
»Nein. Ich hab' die Burschen von dem Flittchen ja nicht gekannt. Und der Günther hat nur so sozialistisches Zeug erzählt. Die freie Liebe sei die menschlichste Form der Liebe, nur sei der Mensch von sich selbst entfremdet und noch nicht reif für die freie Liebe und für den Kommunismus. Das hab' ich mir bis heute gemerkt, aber verstanden hab' ich das nie. So einen Kram haben sie ihm auf der Universität
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