Annas Erbe
wahr?«
»Ich meine, zu wem und was er vorhatte.«
»Das weiß ich nicht. Geht mich auch gar nix an. Er sagte Dresdner Straße 70, Ecke Danziger muss das sein. Ich sag', kenn' ich, und los geht die Stadtrundfahrt.«
»Fiel Ihnen an ihm sonst noch etwas auf?«
»Also sonst, meinen Sie? Nein. Ich mein', er sah eigentlich ganz normal aus. Wissense, gar nicht wie ein Mörder. Und dann les' ich heute in der Zeitung, dass das ein Mörder sein soll, beziehungsweise gewesen war. Erst Mörder und dann Mordopfer oder so. Stimmt das, Herr Chefinspektor?«
»Ich weiß nicht«, sagte Thann wahrheitsgemäß.
Die Dresdner Straße lag im Osten der Stadt. Thann fuhr seinen alten Golf, der weit besser in Schuss war als jedes halb so alte Dienstfahrzeug des Präsidiums. Im Radio spielten sie amerikanische Weihnachtslieder. Die Straßen waren voller Autos mit auswärtigen Kennzeichen. Von weither strömten die Leute zum Einkauf in die Stadt. Thann war froh, als er das Zentrum hinter sich ließ und schneller vorankam. Der Taxifahrer hatte sich korrekt erinnert. Dresdner Straße 70 war das Eckhaus zur Danziger Straße, ein gesichtsloser, vierstöckiger Bau aus den Sechzigerjahren, Teil eines Blocks aus gleich hohen Häusern, älteren und neueren.
Thann besah sich die Klingelschilder, und eins stach ihm gleich ins Auge. Udo Korfmacher.
Jetzt fiel der Groschen. Der BLITZ -Fotograf, das Zahnlückengrinsen. Daher war ihm der Name bekannt vorgekommen. Anna Korfmacher – Udo Korfmacher. Dem Alter nach könnte der Fotograf ihr Sohn sein. Der Sohn der ermordeten Schutzpatronin der Hausbesetzer und Anarchisten. Thann klingelte, doch die Tür blieb verschlossen.
Er ging durch den offenen, dunklen Hofeingang. Das Rückgebäude aus schmutziggrauen Ziegeln war weit älter als das Vorderhaus. Vor sechzig Jahren mochte es einmal eine Fabrik gewesen sein. Heute waren hier ein Fahrradladen, ein Karateklub und ein Fotostudio.
Thanns Schritte hallten über das nasse Pflaster, sonst war es vollkommen still. In keiner der Etagen brannte Licht. Die Eingangstür war angelehnt, Thann stieg die Steintreppe hoch in den zweiten Stock. Ein Schild: Fotostudio Udo Korfmacher. Die Tür war aus grauem Stahl, schwer und unbeweglich. Auch hier blieb Thanns Klingeln ohne Antwort.
Im Hof standen acht große Mülltonnen aus schwarzem Kunststoff. Jede trug einen blauen Aufkleber: A & F, sicher und sauber. Eine vage Vorstellung schoss durch seinen Kopf. Sein Puls beschleunigte sich. Thann hob einen Deckel nach dem anderen – Fehlanzeige von eins bis acht. An keiner Tonne hafteten Blutspuren, weder außen noch innen. Nachdem er den letzten Deckel geschlossen hatte, sah er sich um. Niemand hatte ihn beobachtet. Keine Silhouette an den Fenstern des Vorderhauses, die auf ihn herabsah. Keiner, der wegen des Fremden, der im Abfall schnüffelte, womöglich auf die Idee kam, die Polizei zu rufen. Allmählich beruhigte sich Thann wieder.
Der Regen prasselte, und eine Sturmbö riss die letzten braunen Blätter von den Ästen der Alleebäume. Als er an einer roten Ampel hielt, beobachtete Thann eine alte Frau, die mit den Elementen um die Herrschaft über ihren Schirm kämpfte. Die Radionachrichten sprachen von einer Jahrhundertflut an Rhein, Main und Mosel, schlimmer noch als im Jahr zuvor.
Die Gehsteige unter der Adventsbeleuchtung der Innenstadt waren inzwischen verwaist. Die Läden waren geschlossen, und hinter den Schaufenstern voller Glitzerkram und Weihnachtskitsch zählten die Besitzer ihre Rekordeinnahmen. Die Rezession schien vorbei zu sein.
Plötzlich brachten sie im Radio eine Nachricht, die Thann aufhorchen ließ. Er stellte es lauter. Am Montag werde Polizeipräsident Kurz voraussichtlich aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt vom Amt erklären, hieß es. Der Innenminister bedauere diese Entscheidung, hieß es weiter. Wer Nachfolger von Kurz werde, der das Amt acht Jahre lang innehatte, dazu wolle sich der Minister nicht äußern. Doch in gut unterrichteten Kreisen, so der Nachrichtensprecher, gelte als aussichtsreichster Kandidat Kriminaloberrat Bollmann, der bisherige Leiter der Kriminalpolizei.
Mit einem Fausthieb schaltete Thann den Apparat aus und stieg aufs Gaspedal. Die Reifen drehten auf dem nassen Asphalt durch.
18.
Bevor Thann das Haus betrat, atmete er mehrmals tief durch. Er hatte Durst. Ruhig, du schaffst es – sein Mantra. Doch der Gedanke an Bollmann ließ ihn nicht los.
Es war ein Haus am Stadtpark,
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