Annas Erbe
zumindest die ganz Kleinen. Den Jüngsten hatte sie Karl genannt, nach unserem Gröphaz Karl Marx, dem größten Philosophen aller Zeiten. Wenn Sie den mal treffen, sagen Sie ihm einen schönen Gruß von Friedrich Engels, haha. Wie die anderen beiden hießen, weiß ich nicht mehr. Der Ältere war ein bisschen schwierig, vielleicht vermisste er den Vater oder hatte zu viele davon.«
»Erinnern Sie sich an Günther Eich?«
»Ja, der ging bei Anna ein und aus, meistens mit Büchern unter dem Arm. Er war ihr Haupt-Lover und zumindest für die zwei Kleinen so was wie ein Familienvater. Er dozierte einmal über die bürgerliche Kleinfamilie als Keimzelle des Kapitalismus, dabei war nicht klar, ob er nun dafür oder dagegen war. So sehr sahen die manchmal aus wie die heilige Familie. Er soll sie dann umgebracht haben.«
»Glauben Sie, dass er es war?«
»Kann sein. Alle wollten sie damals ihre Partei der Arbeiterklasse gründen und waren doch schlimmere Spießer als ihre verehrten Arbeiter. Das Motiv soll Eifersucht gewesen sein. Und Grund für Eifersucht hatte er sicher genug. Andererseits sagten wir damals immer, Annas Ermordung war ein Anschlag des kapitalistischen Staates, um unsere Bewegung im Kern zu treffen und zu spalten. Und jetzt wurde Günther Eich umgebracht, sagten Sie?«
»Ja. Ich hörte, er wollte Sie besuchen. War er bei Ihnen?«
»Ja. Am Montag. Es war eine peinliche Situation. Ich erkannte ihn nicht sofort. Er fragte mich nach etwas, von dem er meinte, ich hätte es all die Jahre über aufbewahrt, doch ich konnte es ihm nicht geben.«
»Was war das?«
»Eine Art Buch oder Album, an das er sich erinnerte. Es musste ihm sehr am Herzen gelegen haben. Er sprach von Fotos und Zeichnungen aus der Zeit von Annas Ermordung. Sie müssen wissen, als er in den Knast ging, übernahm die Kommune alles, was Anna gehört hatte. Aber an so ein Buch konnte ich mich nicht erinnern. Die Räumung, die Reisen – da ging viel verloren. Ich war ganz verlegen, als ich ihm das gestehen musste, und gab ihm den Rat, die Nostalgie zu vergessen. Schau lieber in die Zukunft, sagte ich zu ihm. Doch er meinte, gerade dafür bräuchte er das Album. Das war alles, was er wollte.«
Thann überlegte. Ein Album. Fotos und Zeichnungen. Die Aussage des Anwalts: Er machte Andeutungen, er habe etwas in der Hand. Das war zwei Tage später gewesen.
Engels kraulte seine Bulldogge. Sie wackelte heftig mit ihrem Stummelschwanz.
»Wer war Annas Mann?«
»Der ist da nie aufgekreuzt, soviel ich weiß. Sie sagte mal was von einem Beamtenarsch. Tut mir leid, Herr Kommissar, stammt nicht von mir.«
»Wissen Sie, was aus den Kindern von Anna Korfmacher wurde?«
»Nein. Jetzt, wo Sie danach fragen, fällt mir auf, dass wir alle vorgaben, für eine bessere Gesellschaft einzutreten, jeder auf seine Weise. Aber was aus den kleinen Waisen im zweiten Stock wurde, darum kümmerte sich keiner.«
Engels war plötzlich ernst geworden. Er musste jetzt rund fünfzig sein, schätzte Thann, sah jedoch aus wie sechzig oder mehr. Zerknittert und kraftlos. Das Leben als Kommunarde, Hippie und Apostel fernöstlicher Gurus war offensichtlich aufreibender, als Thann es sich vorgestellt hatte. Er überlegte, ob sein Gegenüber noch immer Drogen nahm. Wie in Gedanken schüttelte Engels kurz den Kopf. Seine Hängebacken vibrierten nach.
»Darf ich Sie fragen, womit Sie heute Ihr Geld verdienen?«, fragte Thann und wies mit einem Kopfnicken auf die Ölgemälde im Raum.
Engels lachte. »Hübsche Hütte, was? Gegenfrage: Womit kommt man heutzutage am schnellsten durch die Stadt?«
»Weiß nicht. Mit dem Auto jedenfalls nicht.«
»Eben. So habe ich einen Fahrradkurierdienst gegründet. ›Friedrich Engels' Rote Radler‹. Jetzt gibt es so etwas in jeder Stadt, aber ich war der Erste. Vor fünf Jahren bin ich selbst noch geradelt, als Ein-Mann-Betrieb. Jetzt beute ich Lohnarbeiter aus, kassiere den Mehrwert von achtundvierzig Roten Radlern. Ich habe endlich meinen Karl Marx begriffen und vermehre mein Kapital mit wachsender Profitrate. – Übrigens«, fügte er hinzu und deutete auf die Bilder. »Leo Frentzel kann Ihnen vielleicht noch mehr über Anna Korfmacher und Günther Eich erzählen. Er wohnte zwar nur wenige Wochen im Haus, aber er war mehr oben bei ihr als bei uns in der Kommune. Sein Frauenkopf, der in der Kunsthalle hängt, stellt übrigens Anna dar.«
19.
Der Regen trommelte aufs Autodach und legte einen Schleier auf die Scheibe, obwohl
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