Annas Erbe
und genoss es, der Beobachter zu sein, der erst ganz zuletzt an der Reihe wäre. Diese Vorstellung brachte ihn erneut in Fahrt.
Gegen vier Uhr morgens erwachte Thann. Sein Kopf war taub, sein Körper gehorchte ihm nur zögernd. Die Mattscheibe flimmerte leer. Er schaltete den Apparat ab, trank noch das Glas aus und torkelte zum Bett. Er schlief unruhig und träumte gegen Morgen einen vom Rausch diktierten Traum.
Er sah sich selbst, wie er als prügelnder Bulle durch die Stadt lief. Auf jeden, der ihm begegnete, schlug er ein. Kollegen, unbeteiligte Passanten, blau gekleidete Müllmänner. Eine unsichtbare Macht, die ihm selbst Angst einjagte, trieb ihn dazu. Er konnte nicht anders: Er hieb seine Faust in das Gesicht Udo Korfmachers, und plötzlich stand er vor Eva oder Anna oder der Frau aus dem Video. Auch ihr gab er eine Ohrfeige. Sie fiel hin, und wieder sah er diese furchtbaren Schnitte in ihrem Gesicht. Und von überall her starrten ihn blutunterlaufene Augen an. Dann wollte Anna ihm etwas sagen. Sie rief nach ihm, doch er schaffte es nicht, näher zu kommen.
Mehrfach wachte er auf und schlief wieder ein. Als er am frühen Nachmittag endgültig aufstand, war der Kater so schlimm wie noch nie. Sein bleiernes Hirn drohte die Schädeldecke zu sprengen. In seinem Magen waren die Kieselsteine in wilder Bewegung. Er musste sich übergeben.
Thann sah auf seine Hände. Sie zitterten wieder. Er schwor, mit dem Trinken aufzuhören. Er machte sich eine Dosensuppe warm, dann holte er die Sonntagsausgabe der Zeitung, die er verachtete und dennoch immer wieder las.
16. Dezember. Dritter Advent.
Auf der Titelseite brachte der BLITZ am Sonntag fast ausschließlich die Überschwemmungskatastrophe. Auch innen fand Thann keine Nachricht, die seinen Fall betraf. Stattdessen widmete die Zeitung dem bevorstehenden Wechsel an der Polizeispitze einen kleineren Artikel auf Seite zehn. Von seinem Herzinfarkt vor einem Jahr habe sich Polizeipräsident Kurz nie so recht erholt. Noch im Lauf der Woche wolle der Innenminister seinen Nachfolger ernennen.
Minister Lemke zu BLITZ AM SONNTAG: »Die Stadt braucht Sicherheit und die Polizei braucht Führung. Es wird schwer, einen Mann wie Hans-Werner Kurz zu ersetzen.« Doch längst hat Lemke einen Freund und Helfer: Harald Bollmann, 51, Kriminaloberrat und seit Jahren Vertrauter und Berater des Ministers. An ihm führt jetzt kein Weg mehr vorbei.
Das Foto zu dem Text zeigte Lemke und Kurz beim Händeschütteln. Hinter den beiden stand blond und bullig Harald Bollmann. Dessen Augen waren in die Kamera gerichtet und trafen Thann bis in den Magen.
21.
»Natürlich kann ich mich an die Anna erinnern.« Heinz Pfaff öffnete ein Bier.
»Ich nehme an, Sie trinken nicht im Dienst, Herr Kommissar.«
Thann winkte ab, obwohl er Durst verspürte. Ab heute nüchtern bleiben.
Beckmanns Hinweis auf Pfaff: Proletarisches Milieu. Einfach strukturierter Geist.
»Wir waren rund ein halbes Jahr zusammen. Das war kurz nach ihrer Scheidung. In einer Diskothek hatten wir uns kennengelernt, und es hat gleich gefunkt zwischen uns. Sie müssen wissen: Das war eine echte Klassefrau. An der war was dran, und die zierte sich nicht so wie andere Mädels. Ich hab' mir später oft vorgestellt, wie schön wär' es, wenn wir noch zusammen wären. Aber als sie anfing, auf die Uni zu gehen und zu studieren, da war es dann schnell aus. Bei den ständigen Diskussionen über die Befreiung der Arbeiterklasse und der Dritten Welt und so, da konnte ich eben nicht mithalten. Das andere, das hat allerdings gestimmt, und wir haben uns auch später noch oft gesehen.« Er zwinkerte Thann zu und trank von seinem Bier.
»Vielleicht hätte ich bei ihr einziehen sollen«, fuhr Pfaff fort. »Dann wär' sie vielleicht nicht so auf dumme Gedanken gekommen. Aber ich will Sie nicht langweilen. Was wollen Sie wissen?«
Pfaff zündete eine Zigarette an. Thann fragte nach Annas Kindern.
»Ja, die Kinder! Als wir uns kennenlernten, war das Mädchen gerade erst zwei oder drei Monate alt. Seit damals bin ich übrigens ein richtiger Kindernarr. Ich habe selbst zwei. Die sind schon außer Haus, aber die Älteste hat mir vor Kurzem einen Enkel gemacht, einfach goldig. Haben Sie Kinder?«
Thann verneinte.
»Na, Sie haben auch noch Zeit, Sie sind ja noch jung. Annas Ältesten hatte übrigens ihre Mutter aufgezogen«, fuhr Pfaff fort und blies den Zigarettenqualm zur Seite. Der Ältere war ein bisschen schwierig.
»Doch
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