Annas Erbe
Bruder kenne ich. Der hätte Eich das Album nicht gegeben, zumindest nicht umsonst. Wenn Udo merkt, dass etwas für irgendjemand wertvoll ist, würde er sofort versuchen, Geld daraus zu machen. Udo ist eine geldgierige, asoziale Ratte. Vielleicht schockiert es Sie, dass ich so über meinen Bruder rede, aber ich habe ihn kennengelernt.«
Ein Schimmer von Hass in ihren Augen. Thann musste an das Video denken.
»Eichs Idee war, dass ich mich erkundige, wo Udo seine Kindheit verbrachte. Vielleicht wüsste dort jemand was über das Album, und dann könnte Udo zumindest nichts abstreiten, wenn Eich ihn danach fragen würde. Parallel wollte er es bei ehemaligen Hausbewohnern versuchen, ob das Album vielleicht irgendwo anders gelandet ist. Wie gesagt, das Album hatte es ihm angetan, und zu dem Zeitpunkt hielt ich die Idee für sehr vage. Trotzdem habe ich die Adressen besorgt.«
Der Kellner brachte das Dessert. »Grappe, Espressi?«
Sie ignorierten ihn. »Schon am nächsten Tag konnte ich ihm durchgeben, wo Udo bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr gelebt hatte. Es waren zwei verschiedene Heime und zweimal Pflegeeltern. Keiner hat es lange mit ihm ausgehalten. Am Dienstag trafen wir uns dann zum zweiten Mal, im gleichen Café. Stellen Sie sich vor: Eich war kurz vorher bei Udo gewesen und hatte sich mit ihm geprügelt. Eich hatte ein Veilchen und erzählte, er hätte Udo einen Zahn ausgeschlagen. Also, er kam geradewegs von dieser Prügelei mit meinem Bruder ins Café. Damals konnte ich darüber lachen, da lebte Eich noch. Bis auf das Veilchen ging es ihm gut. Ich hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der er steckte.
Er war sicher, dass Udo das Album hatte. Er sagte, er wolle sich das Album holen, so oder so, auch wenn es mein Bruder nicht freiwillig herausgebe. Wahrscheinlich hat Udo sofort gemerkt, dass es mit dem Album eine besondere Bewandtnis haben muss, und wollte es Eich nicht einmal zeigen. Ich glaube, dass er ein Geschäft witterte. In solchen Dingen ist Udo großartig. Er presst aus allem Geld, wo auch nur ein Pfennig drinsteckt. Die Ratte.«
Eva schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Tiefe Falten durchfurchten ihre Stirn. »Was Eich sagte, klang nach Einbruch. Ich sagte, wenn Sie erwischt werden, übernimmt die Kanzlei Meier die Verteidigung. Ich meinte das als Scherz. Erst am nächsten Tag erkannte ich, dass alles viel ernster und gefährlicher war, als ich bis dahin dachte.
Also, am Mittwoch kam ich erst gegen ein Uhr nachts nach Hause, denn wir hatten eine Art Weihnachtsfeier bei Meiers zu Hause. Auf meinem Anrufbeantworter war ein Anruf. Es war Eich. Er sagte, eigentlich habe alles geklappt, doch jetzt hätten sie bei ihm eingebrochen. Er sei nun in der heißen Phase, sagte er, und fragte, ob ich einen sicheren Ort für ihn wüsste. Zu Hause fühle er sich nach diesem Einbruch nicht mehr sicher genug. Ich rief zurück, doch er hob nicht ab. Ich versuchte es immer wieder, die ganze Nacht und auch am Donnerstag. Den Rest kennen Sie. Am Freitag zeigte mir Meier sein Gesicht in der Zeitung und sagte: Das ist doch unser Mandant.«
Eva sah Thann an, als erwarte sie, dass er das Rätsel löste, jetzt sofort. Diese Augen. Dieser Mund.
»Warum haben Sie mir das nicht schon am Freitag erzählt, als wir uns zum ersten Mal sahen?«
»Weil, na ja, wenn die Polizei mit dem Mord an meiner Mutter zu tun hatte, dann war es vielleicht ratsam, vorsichtig zu sein.«
Eichs abstruse Verschwörungstheorie. »Und heute Abend haben Sie sich entschlossen, unvorsichtig zu werden?«
Eva lächelte wieder. »Irgendwie glaube ich, dass ich Ihnen vertrauen kann. Sie werden mich doch nicht enttäuschen, oder?«
»Ich hoffe nicht. Was ist eigentlich mit Ihrem jüngeren Bruder? Was sagt der zu Eichs Theorie?«
Sie klang bedrückt. »Ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nicht, ob er lebt, und wenn ja, wo. Ich habe auch nie herausbekommen, wer mein leiblicher Vater ist. Leider. Ich habe keine Familie. Mein Stammbaum ist abgebrochen, als hätte ein Blitz ihn gefällt.« Ihre Hand fällte einen Baum aus Luft. Dann landete sie in der Mitte des Tisches.
Thann ergriff sie.
Eva sah ihm forschend in die Augen. Ein Moment der Verlegenheit.
Erst jetzt bemerkten sie das Dessert, das der Kellner längst gebracht hatte. Ein ganzes Gebirge aus Kalorien und Cholesterin. Es schmeckte wundervoll.
Thann begann zu erzählen: Von den gleichartigen rätselhaften Verletzungen, die sowohl Evas Mutter als auch Eich zugefügt worden waren. Von seinen
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