Annas Erbe
vor einer Woche. Wir trafen uns am Abend in einem Café. Er hatte mich auf den Brief hin angerufen. Zuerst hatte ich Angst, er würde den ganzen Abend über nur beteuern, dass er meine Mutter nicht umgebracht hätte. Natürlich tat er das dann auch, aber es war doch ein interessanter Abend. Ich erfuhr viel über meine Mutter. Es war eine ganz andere Sichtweise als die, die ich von meinem Vater, das heißt, von meinem Adoptivvater kannte. Eich muss sie sehr geliebt haben, auch wenn er meinte, dass sie eigentlich nicht zusammengepasst hätten. Dann erzählte er von all den Indizien, die zu seiner Überführung beigetragen hatten. Alles habe gepasst und sei perfekt arrangiert gewesen. Er sagte: Wer auch immer es war, der mich hereinlegte, er ist intelligent und verdammt gerissen. Trotzdem wollte Eich versuchen, den wahren Mörder zu finden.«
»Haben Sie diese Geschichte geglaubt?«
Eva zögerte. »Ja, ich glaubte ihm. So, wie er über meine Mutter sprach, kann er sie nicht umgebracht haben. Aus Eifersucht? Nein, das glaube ich nicht.«
Der Kellner brachte die Getränke.
Eva fuhr fort: »Er wirkte irgendwie besessen und zugleich kühl, nicht fanatisch, wenn Sie wissen, was ich meine. Er hatte ein Vierteljahrhundert Zeit gehabt zum Nachdenken. Man muss sich das mal vorstellen! Fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis für einen Mord, den jemand anders begangen hat! Er war recht verschlossen, aber ich spürte, dass er heiß darauf war, seine Unschuld zu beweisen.«
Sie nippte an ihrem Wein. Thann wartete, bis sie weitersprach.
»Ich fragte ihn, ob er wisse, aus welchem Motiv meine Mutter ermordet worden sei. Er sagte, die einzige Erklärung, die er sich vorstellen könnte, sei Geld. Beim Streit um Abriss oder Erhalt des Hauses, in dem meine Mutter lebte, sei es um viele Millionen gegangen. Und nicht die Hausbesetzung hätte letztlich den Abriss aufgehalten, sondern nur die Weigerung meiner Mutter, auf die Kündigungsfrist zu verzichten und eine Ersatzwohnung zu akzeptieren. Sie hatten zuletzt 100 000 Mark geboten und eine große, schöne Wohnung gegen geringe Miete. Doch sie blieb stur, aus Romantik oder Ideologie oder aus Mitgefühl für die Hausbesetzer – ich weiß es nicht. Jedenfalls hat erst der Tod meiner Mutter den Spekulanten den Weg frei gemacht für ein schnelles und richtig großes Geschäft.« Eva machte eine Handbewegung. Hinter ihr funkelten die Lichter des Hochhauses durch den Dunst der Stadt.
»Und noch einen Verdacht hatte Eich. Einen Verdacht, der sich gegen Sie richtet.« Sie zeigte mit dem Finger auf Thann, die Stirn in Falten gelegt. »Er glaubte, die Polizei hätte ihre Finger im Spiel gehabt bei der Konstruktion der Indizien gegen ihn. Vielleicht sogar beim Mord selbst. Er meinte, sich zu erinnern, dass Anna vor seiner Zeit einmal eine Beziehung zu einem Polizisten hatte. Damit meinte er nicht meinen Adoptivvater, sondern einen anderen. Er erinnerte sich an ein Foto, auf dem Anna mit diesem Polizisten und meinem größeren Bruder zu sehen war. Er meinte, nur ein Polizist könne so perfekt die Schuld einem anderen in die Schuhe schieben. Er fragte mich, ob ich mich an ein Fotoalbum erinnern könnte, aber ich musste passen.« Eva fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar.
Eine Art Album, das ihm am Herzen lag. »Was halten Sie davon? Nur weil Eich sich vage an ein Foto erinnert, soll ein Polizist der Mörder sein?«
»Ich glaubte auch nicht daran«, antwortete Eva. »Jedenfalls vor einer Woche nicht. Aber jetzt ist Günther Eich tot.«
Endlich kam das Essen.
»Pepe?«, fragte der Kellner und schwang eine Pfeffermühle, so groß, dass er Ochsen damit hätte erschlagen können.
Beide aßen mit großem Appetit, und das Gespräch schweifte ab. Sie kamen von einem Thema zum anderen. Thanns Begeisterung für Eva wuchs.
Eva bestellte ein zweites Glas Weißwein.
»Dolci?«, wollte der Kellner wissen.
Eva fragte Thann, ob sie sich ein Dessert teilen sollten. Es schmecke hier so herrlich, doch sie habe Angst um ihre Figur, wenn sie eine ganze Portion essen würde. Thann lachte, machte Komplimente und willigte ein. Dann besann er sich auf seine Ermittlung.
»Ihr Treffen mit Eich. Was geschah weiter?«
»Also, beim ersten Treffen beschlossen wir, gemeinsam nachzuforschen. Er meinte, vielleicht hätten meine Brüder das Album, wahrscheinlich der ältere, denn der war auf dem Foto drauf und beim Tod meiner Mutter immerhin schon fünf. Wahrscheinlich hat er es quasi als Erbe mitbekommen. Meinen älteren
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