Annas Erbe
Zeichnungen.
Erst später sah ich, dass er viel Spaß am Zeichnen hatte. Er hatte Spaß daran und taute auf.
Es waren Szenen von Verbrechen und Tod, krakelig zu Papier gebracht. Thann fragte sich, was im Kopf des Fünfjährigen vorgegangen sein mochte.
56.
Ich liege unter dem Sofa und gucke. Mama und Papa streiten. Papa haut Mama. Mama schreit. Ich habe Angst. Mama sagt böse Sachen zu Papa. Papa haut Mama, denn Strafe muss sein. Unter dem Sofa ist es eng. Ich kriege keine Luft. Mama fällt hin und hat Blut im Gesicht. Papa hat eine Pistole. Es macht einen lauten Bums. Ich habe Angst und muss weinen. Mama hat ganz viel Blut im Gesicht. Papa nimmt mich auf den Arm. Mama ist ganz still. Papa sagt, ich brauche keine Angst haben. Er hat mich lieb. Wenn ich groß bin, werde ich stark wie Papa und habe auch eine Pistole. Mama hat geblutet, weil sie böse war zu Papa. Mama spricht nicht, weil sie Udo nicht lieb hat.
Ich male gern mit Stiften. Das Heim ist doof. Nur Schwester Resi ist manchmal lieb. Ich male Papa und Mama beim Streiten. Ich male den Bums von der Pistole. Immer wieder. Das Blut ist rot. Schwester Resi sagt, meine Bilder sind doof. Sie mag die Pistole nicht leiden. Ich haue ihr mit dem Stift ins Gesicht. Strafe muss sein. Schwester Resi darf mein Album nicht kriegen. Das Album gehört Udo ganz allein. Schwester Resi ist doof. Alle sind doof. Nur mein Papa hat mich lieb. Immer und immer und immer.
Karl
57.
Mitternacht. Im Autoradio brachten sie Nachrichten, doch an Thann rauschten die Sätze vorbei. Seine Gedanken drehten sich im immer selben Kreis. Die Kinderzeichnungen in Korfmachers Fotoalbum hatten von seinen Gehirnzellen Besitz ergriffen.
Udo könnte einem fast leid tun, hatte Eva gesagt. Ein solches Erlebnis im Alter von fünf Jahren musste ein Trauma sein, das die Seele für immer verbog. Sie ahnten den Schock, unter dem das Kind gestanden hatte, als es diese grellen und groben Äußerungen zu Papier brachte, auch wenn dabei vielleicht schon Wochen seit dem Verbrechen vergangen waren.
Sie hatten überlegt, ob Udo diese Zeichnungen jemals einem anderen Menschen gezeigt hatte, vielleicht einer Erzieherin im Kinderheim. Thann konnte sich gut vorstellen, dass die Gedankenwelt eines Kindes durch die Beobachtung einer solchen Gewalttat ins Wanken geraten war und Udo die Tat gezeichnet hatte, um anhand der Reaktionen Erwachsener zu überprüfen, was er von der Tat und vor allem vom Täter zu halten hatte.
Thann und Eva waren sich einig: Die Zeichnungen waren der Aufschrei eines kindlichen Zeugen, der das schlimmste Verbrechen zu verstehen versuchte, den Mord an seiner Mutter. Und mehr noch. Der Täter war als eine große Figur mit großen Händen und einer übergroßen Pistole dargestellt. Haare und Bart waren mit gelbem Buntstift gezeichnet. Sie kannten nur einen, auf den das Bild passte. Polizeipräsident Harald Bollmann, Udos eigener Vater.
Thann fragte sich, ob ein solches Bild als Beweismittel taugte. Wenn er handeln könnte, wie er wollte, würde er morgen Kollegen losschicken, um sämtliche ehemaligen Erzieher und Pflegeeltern Korfmachers mit dem Album zu konfrontieren. Vielleicht hatte der Junge über sein Erlebnis gesprochen. Thann würde sämtliche Bekannten Annas befragen, ob sie weitere blonde, bärtige Männer kannten, die mit Anna oder Udo Kontakt hatten. Wenn Bollmann der Einzige gewesen war, wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass er der Mörder war. Dein Album macht dem Chef Sorgen.
Es war zum Verzweifeln. Der morgige Tag würde anders aussehen, als Thann es sich wünschte. Kollegen befragen, die sich für Schweinkram hergegeben hatten, den Handlanger Fendrichs spielen, den Befehlsempfänger Bollmanns. Vor Wut schlug Thann aufs Lenkrad. Er sah nur einen Ausweg.
Er nahm sich vor, einen zweiten Anlauf bei Minister Lemke zu unternehmen. Erstatten Sie mir Bericht, wenn Sie etwas Neues erfahren. Immerhin hatte er etwas in der Hand. Es lag im Kofferraum, verpackt als Verbandszeug. Udo Korfmachers einzigartiges Familienalbum musste Lemke zum Handeln zwingen.
Thann bemerkte, dass er eine Abbiegung verpasst hatte. Er wendete. Es war nur wenig Verkehr, der Regen fiel schwach. Die Wischer quietschten, und die Scheibe beschlug. Die Weihnachtslichter in den Bäumen der noblen Haupteinkaufsstraße erinnerten Thann daran, dass er noch Geschenke zu kaufen hatte. Vielleicht morgen.
Er nahm den Wetterbericht wahr. Nachlassender Regen, Übergang zu Schauertätigkeit. Ein
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