Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Heiligabend!«
Anne nickte. »Ja, ich weiß. Also noch zwei Tage. Ich werde ein Paar extra feine Fausthandschuhe machen. Wie heißt deine Mutter mit Vornamen?«
»Eva.«
»Das ist ja herrlich! Ich hatte solche Angst, sie würde Josefine-Amalie heißen«, rief Anne und lachte hell und fröhlich auf.
An diesem Nachmittag flogen die Stricknadeln schneller als je zuvor. Anne scheute keine Mühe. Es wurden die schönsten Handschuhe, die sie jemals gemacht hatte.
Am nächsten Vormittag läutete Jess an. »Du, Anne! Hast du Lust, morgen am Heiligabend zu uns zu kommen? Meine Eltern möchten dich so gern kennenlernen.«
Annes Nasenflügel bebten. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Und sie war nur froh, daß Jess nicht sehen konnte, wie ihre Mundwinkel zuckten.
»Ja - danke, Jess. Dazu - dazu habe ich schon Lust. «
»Fein, Anne. Ich hole dich um fünf Uhr ab. Paßt dir das?«
»Ja, klar.«
»Großartig, Anne.« Er unterbrach sich. »Ach, warte mal eben! Mutter steht hier neben mir und sagt etwas.« Anne hörte durchs Telefon ein fernes Gemurmel.
»Bist du noch da?« rief Jess nach einer Pause. »Ich soll dir von Mutter bestellen, daß du dich nicht etwa feinzumachen brauchst. Bei uns zu Hause geht es furchtbar einfach zu. Vater muß jeden Tag im Frack und weißer Weste erscheinen - da weigert er sich natürlich, so was auch noch am Heiligabend anzuziehen. Du darfst nicht vom Stengel fallen, wenn er in einer geflickten Hausjacke erscheint.« Jess lachte, und Anne lachte mit. Dabei schluckte sie gewaltig. Aber sie fing sich schnell wieder und erzählte, daß die Handschuhe fertig seien. »Großartig!« rief Jess. »Du bist direkt ein Wunder!«
Nach dem Gespräch legte Anne alle Arbeit beiseite. Sie kramte die letzten Reste der von ihrer Mutter gesponnenen Wolle hervor und nahm Maschen auf für ein Paar Herrenhandschuhe. So kam es, daß sie noch ein Paar Fausthandschuhe mit »Jess« im linken und »Daell« im rechten Handgelenk stricken durfte.
Man hat so viel Zeit zum Nachdenken, wenn man stundenlang mit einem Strickzeug dasitzt. Annes Gedanken liefen von dannen, machten kleine Seitensprünge hierhin und dorthin und kehrten immer wieder zu demselben Punkt zurück. Vor vier Monaten war sie noch daheim gewesen auf Möwenfjord und hatte sich in die Stadt hinausgesehnt. Und jetzt saß sie hier, in Aspedals moderner Wohnung, sie hatte sich an die Stadt gewöhnt, sie merkte den Stadtgeruch und die Stadtgeräusche nicht mehr, die sie zu Anfang so in Beklemmung versetzt hatten. Sie hatte Konzerte gehört, einmal war sie in einen Film gegangen - Frau Aspedal hatte sie mit Per in eine Kindervorstellung geschickt - und sie war zum erstenmal in ihrem Leben in einer Konditorei gewesen.
Und obendrein und vor allem hatte sie sich mit Jess angefreundet.
Ganz anders war diese Freundschaft als alle die kleinen Flirts und Eifersüchteleien, über die die Mädchen in der Klasse heimlich flüsterten und tuschelten. Anne wußte, daß Olaf mit Ingrid »ging«, wie man zu sagen pflegte, und Björn »ging« mit Rönnaug und Henrik mit Solveig. Sie aber hatte bisher außerhalb gestanden und nur zufällig Bruchstücke von Andeutungen und Bemerkungen,
Prahlereien und Streitereien gehört.
Nie war es ihr in den Sinn gekommen, daß sie von einem Jungen eingeladen werden könnte - und noch dazu in sein Elternhaus!
Plötzlich kam Anne ein verwegener Gedanke in den Sinn: Wie würden die anderen Mädchen sie beneiden, wenn sie das wüßten! Sie war in diesem Augenblick eine richtige kleine Frau, die aus vollem Herzen einen Triumph auskostete. Ja, und den mußte man ihr wohl gönnen! Sie hatte wahrlich bis jetzt nicht zu viele Triumphe erlebt. Zwar war sie eine der Besten in der Klasse - aber das zählt im Kameradenkreis immer und zu allen Zeiten nur wenig.
Warum aber interessierte Jess sich gerade für sie? Da war zum Beispiel Britt - die hübsche, weitgereiste Britt, die so munter und witzig war, deren Vater eine Villa und ein Auto besaß - die achtzehnjährige Britt, die sogar den Führerschein gemacht hatte und die am besten von allen Mädchen in der Unterprima tanzte. Britt würde sich bestimmt liebend gern mit Jess angefreundet haben. Warum in aller Welt zog er ausgerechnet die kleine unscheinbare Anne aus Möwenfjord vor? Die Anne mit dem Schottenkleid aus einem Stoffrest vom Dorfhändler? Die Anne mit den rauhen Händen von all dem vielen Aufwasch? Die Anne, die nie etwas mitmachen konnte, weil sie entweder Kinder hüten oder
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