Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
losgehen. Vater, du fängst an.«
Der Kapellmeister streckte einen Arm aus, angelte sich ein Paket heraus und las: »Für Vater von Jess.«
»Du mogelst, Vater. Immer findest du nur deine eigenen Pakete.
- Anne, du bist ein ehrlicher Mensch. Fisch etwas heraus!«
Anne griff ins Blaue hinein. »Für Jess von Mutter«, las sie.
Es wurde ausgepackt und gedankt und gelacht und gescherzt. Frau Daell war hellbegeistert von den Fausthandschuhen. Nun mußte sie auch angeln. Das Paket, das sie jetzt herauszog, trug als Aufschrift die Worte: »An unseren kleinen Gast von Familie Daell.«
»Aber nicht doch.«, stammelte Anne. Sie packte eine entzückende Kragengarnitur aus. Etwas so Feines hatte sie noch nie besessen. Wunderhübsch würde sie zu dem neuen blauen Pullover von Mutter passen.
»Entschuldige, daß ich so wenig erfinderisch bin«, meinte Jess. »Ich habe keine blasse Ahnung, was man Mädchen schenkt. Aber hierfür hast du sicher Verwendung.« Er ließ ein neues Päckchen in Annes Schoß plumpsen: Nylonstrümpfe!
»Ich glaube, du bist toll!« rief Anne und drückte kräftig Jess’ Hand.
Jess seinerseits war gerührt über Annes Fäustlinge. Und abermals wurde die Strickkunst des kleinen Gastes von allen Daells gebührend bewundert.
Das letzte Paket, das Anne bekam, war von Frau Aspedal. Es enthielt eine kurzärmelige weiße Spitzenbluse. Anne erkannte sie wieder. Frau Aspedal hatte sie von Verwandten in Amerika bekommen, konnte sie aber nicht tragen, weil sie ihr zu groß war.
Anne drehte die Bluse etwas ratlos in den Händen. »Schön, ja. aber wann soll ich so etwas eigentlich tragen?« fragte sie. »Liebes Kind«, rief Frau Daell, »diese Bluse ist so ungefähr zu allem auf der Erde zu verwenden. Mit kurzem Rock zum Theater und Konzert -mit einem langen Taftrock als Abendkleid.«
»Abendkleid.?« stieß Anne hervor. »Ja, gewiß. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Anne: Ziehen Sie die Bluse doch zum Schulball an!«
Der Schulball - plötzlich war er in greifbare Nähe gerückt. Wenn Frau Daell meinte, daß sie diese Bluse dazu brauchen könnte, dann. Ja, einen Rock würde sie sich vielleicht doch leisten können. Und neue schwarze Schuhe, die dazu paßten, hatte sie ja. »Ja, zum Schulball!« sagte Anne plötzlich mit klarer Stimme und packte die Bluse sorgfältig ein.
Frau Daell sah sie lächelnd an. Sie verstand. Jess hatte ja so viel von Anne erzählt, daß sie sich manches zusammenreimen konnte. Und Frau Daell, die sich immer eine Tochter gewünscht, aber nie eine bekommen hatte, spürte mit einemmal, wie ein warmes mütterliches Gefühl für dieses tapfere junge Mädchen in ihr hochstieg.
»Ich bin gar nicht so ungeschickt im Nähen«, sagte sie zu Anne. »Ich kann Ihnen beim Schneidern des Rockes gut helfen, wenn Sie wollen.«
»Ja«, sagte Anne wieder. Ihre Augen funkelten. »Ich kaufe mir morgen Stoff dafür.«
Da lachte Jess laut auf. »Morgen ist Feiertag, Anne. Die Geschäfte haben geschlossen.«
Anne wurde tiefrot. »Ich meinte. Ich meinte - am dritten Weihnachtstag.«
»Und ich lade dich hiermit feierlich zum Schulball ein! An dem Abend darf Frau Aspedal ihre Sprößlinge selber besorgen, laß dir’s gesagt sein!«
Zum Abend gab es Gänsebraten - wie es in Dänemark üblich war. Daells pflegten auch in Norwegen ihre dänischen Sitten weiter. Nach dem Essen deckten Jess und Anne den Tisch ab. Und dann gab es noch eine kleine freundliche Auseinandersetzung mit Frau Daell. Denn Anne bestand darauf, selber abzuwaschen. Sie wußte: Es war für eine Hausfrau schrecklich, am nächsten Morgen in eine unaufgeräumte Küche zu kommen. Das wollte sie Frau Daell am Weihnachtsmorgen ersparen.
Frau Daell gab nach. Und Anne wusch auf, und Jess trocknete ab. Nie hätte Anne sich’s träumen lassen, daß es so wunderbar sein könnte, fettige Teller abzuwaschen.
»Es ist so herrlich still bei uns heute abend«, sagte Frau Daell und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer im Sessel zurück.
»Und das gehört bei uns zu den Seltenheiten«, ergänzte Jess ihre Rede. »Du mußt wissen, Anne: Wo wir auch in der Welt gelebt haben, da haben alle Freunde und Bekannten unser Zuhause als - ja, wie soll ich es nennen, Mutter? - als Zufluchtsort betrachtet. Oder als eine Art Obdachlosenherberge. Jedenfalls kommen und gehen die Menschen hier Tag und Nacht aus und ein. Tatsächlich haben wir nur den Weihnachtsabend für uns allein - und Mutters und Vaters Hochzeitstag. Da lassen wir uns verleugnen.«
»Und
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