Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
schwer für die Schule. Es ist nicht so leicht, sich auf eine andere Sprache umzustellen.«
Anne lauschte begierig auf alles, was Frau Daell von Jess erzählte. Und während sie von der wohlschmeckenden Speise aß, stellte sie fest, daß sie künftig auch ihr Lieblingsnachtisch seih würde.
Dann wurde der Tisch abgeräumt, Schere und Muster wurden hervorgeholt. Unter Frau Daells geschickten Händen entstand aus dem kleinkarierten Taft, den Anne am Vormittag gekauft hatte, ein langer, gutsitzender Abendrock.
»Aber, Anne! Wie dünn bist du nur!« rief Frau Daell aus und schaute aufs Maßband, das sie gerade um Annes Mitte gelegt hatte.
»Ich bin dünn?« fragte Anne zurück. Sie hatte immer nur zu hören bekommen, wie groß und kräftig sie sei.
Doch als der Rock zusammengeheftet war und sie ihn vor dem Spiegel anprobierte, sah sie, daß Frau Daell recht hatte. Sie war um die Mitte gertenschlank. Kein Wunder, daß sie den Wollpullover in den alten Rock hineinstecken konnte. So hatte die Stadt sie auch in dieser Hinsicht verändert.
Anne machte große Augen, als Frau Daell die elektrische Nähmaschine hervorholte. Das wäre etwas für Marthild gewesen -Marthild war so geschickt im Nähen und nähte alle Kleider für sich, für Mutter und auch für Anne.
»Ja, das ist ein wunderbares Ding«, nickte Frau Daell und legte einen neuen Saum unter die Maschine. Hui - brrr - schon war er fertig. Und während die Arbeit rasch und leicht von der Hand ging, plauderte Frau Daell unermüdlich und erzählte von Jess.
»Jess liebt die Musik so sehr«, erzählte sie. »Er will ja eigentlich nichts weiter als nur spielen. Aber da muß ich doch sagen, daß mein Mann vernünftig war. Er wollte kein Wunderkind aus Jess machen. Der Junge darf spielen, so hat er gesagt, aber erst soll er eine ordentliche Ausbildung hinter sich bringen. Jess durfte zwischen einem Handwerk und einem Studium wählen - die Hauptsache ist, daß er etwas Reelles lernt. Er soll einen Abschluß haben, so daß er immer darauf zurückgreifen kann, wenn es sich herausstellt, daß die musikalische Begabung unseren Hoffnungen und Erwartungen nicht entspricht. Wenn ich natürlich auch glaube.« Frau Daell unterbrach sich mit einem kleinen Lächeln, schnitt einen Faden ab und machte einen neuen Saum zurecht.
»Was soll Jess denn nach dem Abitur machen?« fragte Anne.
»Er will auf die Handelshochschule gehen. Und wenn er ein paar Semester hinter sich hat, dann mag er nach Herzenslust spielen. Ich male mir nämlich die ganze Zeit schon aus, daß er zum erstenmal öffentlich spielen soll, wenn er einundzwanzig wird.«
»Er ist jetzt achtzehn, nicht wahr?« fragte Anne.
»Ja. Achtzehneinhalb. Und, wenn es nach meinem Wunsch geht, dann soll er in zweieinhalb Jahren als Solist in einem Orchesterkonzert auftreten. Am siebenten September, Anne!«
Anne versenkte das Datum fest und sicher in ihrem Gedächtnis. Am siebenten September.
»Und was soll er dann spielen?«
»Schumanns a-moll-Konzert«, sagte Frau Daell sicher und entschieden.
»Ist er auch schon dazu entschlossen?«
»Schon? Dazu hat er sich bereits entschlossen, als er zwölf war.« Sie seufzte. »Ach ja, Anne, wir sitzen da und malen uns die Zukunft aus. Aber wer weiß - vielleicht wird mein Junge mal Briefmarken in einer Reederei kleben oder Zahlen in einer Bank schreiben. So, herunter mit dem Rock! Du sollst anprobieren.«
Der neue Rock saß ausgezeichnet, und Anne lächelte ihr Spiegelbild an.
»Jetzt nur noch die Handsäume«, sagte Frau Daell.
»Die kann ich doch selber machen.«
»Kommt nicht in Frage. Ich habe Ehrgeiz, weißt du. Dieser Rock hier soll untadelig werden. Hast du nicht dein Strickzeug mitgebracht? Dann strick du nur, mein Kind.« Die letzten Worte sagte sie in waschechtem Dänisch.
Anne strickte, und Frau Daell nähte die Handsäume. Nach einer Weile fragte sie: »Was willst du nach dem Abitur machen, Anne?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Anne. »Ich kann vorläufig gar nicht weiter denken als bis zum Abitur. Ich trau mich nicht.«
»Mir fällt ein.« Frau Daell unterbrach sich selbst, fädelte neu ein und hatte ihr Augenmerk scharf auf das Nähen gerichtet. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach: »Ich finde, du darfst dich in deiner Stellung dort bei Aspedals nicht zu sehr aufopfern.« Sie sagte es ein wenig zögernd. »Natürlich verstehe ich, wie wertvoll es für dich ist, umsonst wohnen und essen zu können. Aber ich weiß nicht recht, ob Frau Aspedal so
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