Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
trotzdem habt ihr mich eingeladen?« fragte Anne.
»Ja, das ist doch klar. Wenn wir am Heiligabend Gäste haben wollen, so möchten wir selber bestimmen, wer es sein soll. An diesem Tage wollen wir keinen hereingeschneiten Besuch haben, verstehst du?«
Sie saßen über den Weihnachtsnäschereien. Herr Daell hatte eine Flasche selbstabgezogenen Apfelwein aus dem Keller geholt. Anne nippte an ihrem Glas. Es war das erstemal, daß sie Alkohol zu kosten bekam. Das erstemal, das erstemal - alles geschah zum erstenmal! Alles war neu und atemraubend merkwürdig.
»Spielst du nicht ein bißchen, Jess?« fragte Frau Daell.
»Ja, los, Jess!« fügte der Kapellmeister hinzu. Er stand auf und holte seine Violine. Bevor Anne noch begriffen hatte, was er wollte, hatte er ihr die Violine in die linke Hand gedrückt und den Bogen in die rechte.
»Spielen Sie, mein Kind. Heute abend wollen wir beiden Alten nur zuhören.«
Anne wurde flammend rot. »Nein - das getraue ich mich nicht!«
»Unsinn, Anne«, sagte Jess. »Ich kann dir verraten, daß Vater viel schlimmere Anfänger unterrichtet hat, als du es bist. Wir spielen das Menuett, das kannst du bestimmt, ich weiß es.«
Anne sah Jess hilflos an. Und mit einem Male wurde sie ganz ruhig. Es war ja nicht der berühmte Geiger und Kapellmeister, dem sie vorspielen sollte, sondern schlicht und recht Jess’ guter Vater.
Aber schon nach dem ersten Strich hielt sie inne und schnappte nach Luft.
»Na, was ist denn los?«
»Was für eine - was für eine Geige! Mir ist beinahe, als kriege ich keinen Atem!«
Jess lachte. »Ja, diese Geige hat es in sich! Spiel jetzt, Anne.«
Und sie spielte. Sie spielte mit laut pochendem Herzen. Und sie hörte den vollen, reichen Klang in dem alten Instrument; es war, als ob sie nur vorsichtig den Ton anschlüge und die Violine ihn zurückwarf, zehnfach reicher und schöner.
Sie ließ den Bogen sinken. »Du großer Gott«, flüsterte sie. Und sie wußte nicht, daß sie zum ersten Male in ihrem Leben Gottes Namen in dieser Weise angewandt hatte. Ausdrücke wie »Gott helfe mir«, »Gott bewahre«, »Lieber Gott« waren bei Anne daheim in der täglichen Rede nicht gebräuchlich. Gottes Name gehörte in die Kirche, in die Andacht und in die Religionsstunden. Sie erschrak vor sich selbst.
Der Kapellmeister hatte ein kleines Lächeln um den Mund. »Spiel weiter, Anne.«
Jetzt ließ sie sich nicht mehr nötigen. Sie hob den Bogen und blickte Jess fragend an. Denn sie brannte darauf, eine von Vaters Volksweisen zu spielen. »Jess, kann ich.?«
Er verstand sie. »Ja, tu das. Vater hat die norwegische Volksmusik so gern.«
Anne erlebte etwas Seltsames, während sie die kleine Melodie spielte. Das Zimmer und die Menschen flossen vor ihrem Blick in einem Nebel zusammen, sie mußte die Augen schließen. Sie hatte ein Gefühl, als ob sie die Geige mit dem Bogen liebkose und als ob die ihr zum Dank mit vollen und warmen Tönen antwortete.
Die Tränen wollten ihr kommen. Mit zitternden Händen legte sie Geige und Bogen weg.
Der Kapellmeister stand auf und strich ihr übers Haar. »Ich danke dir, kleine Anne. Es war wirklich schön.«
»Ich bin es, die zu danken hat«, flüsterte das Mädchen.
Ein Weilchen sagte niemand etwas. Anne strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte den anderen ein wenig verlegen zu. Dann hob der Kapellmeister sein Glas. »Jetzt wollen wir auf Annes Mutter und auf ihre Geschwister trinken«, sagte er. »Sie denken jetzt sicher an dich. Prost, Annchen, und ein Prosit für alle daheim auf Möwenfjord!«
Keiner merkte, daß der Kapellmeister »dich« und nicht »Sie« gesagt hatte. Niemand außer Anne selbst. Und sie freute sich darüber. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, daß man sie mit »Sie« anredete - aber Daells waren ja Dänen, und in Dänemark sagte man vielleicht »Sie« zu Siebzehnjährigen?
Sie tranken mit Frau Daells Apfelwein auf das Wohl aller in Möwenfjord. Und Anne wußte: es war ehrlich gemeint. Ihre Gedanken schlugen eine Brücke von der großen Stadt zum kleinen Hof am Fjord, in dem die Ihren jetzt Weihnachten feierten.
Zwei Welten finden sich
Anne war noch immer rundherum voll Glück, als sie am Weihnachtsmorgen in der leeren Wohnung von Aspedals aufwachte. Sie trank zum Frühstück ein Glas Milch und aß ein paar Scheiben Brot dazu. Frau Aspedal hatte ihr Kostgeld dagelassen und gesagt, dafür solle sie sich etwas Gutes zu essen kaufen. Aber Anne hatte keine Lust, das gute Geld aufzuessen! Das
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