Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
bis in die tiefe Nacht hinein über ihren Schulaufgaben sitzen mußte?
Anne verstand es selber nicht. Aber sie fühlte, wie eine große und blanke, zitternde Freude in ihr hochstieg.
Am Vormittag des Heiligen Abends konnte sie einer Versuchung nicht widerstehen. Sie ging in die Stadt und kaufte sich Schuhe. Ja, sie mußte zur Feier etwas Leichteres und Hübscheres haben als die soliden Schnürschuhe, die sie bis jetzt getragen hatte. Und sie genoß es, in dem großen, schönen Geschäft zu sitzen und Schuhe anzuprobieren, sie sah mit klopfendem Herzen zu, wie die schwarzen, wildledernen Pumps, die sie gewählt hatte, eingepackt wurden. Es waren die feinsten Schuhe in ihrem ganzen Leben. Und das Geld dafür hatte sie selber verdient! Aber jetzt schmolz es auch in ihrem Portemonnaie zusammen. Sie mußte also vorsichtig sein. Es war nicht sicher, ob die »Modellstrickerei« nach Weihnachten noch so viel bei ihr bestellen würde wie bisher. Außerdem stand eines fest: Auf die Dauer würde sie dieses Tempo im Stricken nicht beibehalten können. Nein, sie mußte von jetzt an sparen. Da war vor allen Dingen der Schulball. Er kostete allein zehn Kronen Eintrittsgeld -und dazu noch ein neues Kleid. Ein Kleid? Nein. Anne hatte in den großen Geschäften Ballkleider ausgestellt gesehen. Das einfachste Kleid kostete zweihundert Kronen. Unmöglich - das mußte sie sich aus dem Kopfe schlagen. Und sie konnte ja ohnehin nicht tanzen. Sie durfte schon zufrieden sein mit dem, was sie bis jetzt erreicht hatte.
Selbst eine Einladung am Heiligen Abend bei Kapellmeister Daell änderte nichts daran, daß sie nur die Anne aus Möwenfjord war, die »Anne Hausgehilfin«.
»Wie nett du aussiehst, Anne!« sagte Jess, als er kam, sie abzuholen. Annes Wangen hatten einen rötlichen Schimmer, und bei Jess’ Worten wurde der Schimmer noch ein wenig tiefer.
Aber Jess hatte wirklich recht. War auch das Kleid nur aus einem Stoffrest gemacht und von Marthild genäht worden, so stand es ihr doch vorzüglich. Dazu kamen noch die neuen seidenen Strümpfe und die soeben gekauften schwarzen Pumps - ja, sie sah so hübsch aus wie noch nie. Ihr Haar war frisch gewaschen, die Augen unter den feinen Brauen glänzten. Und Jess musterte sie mit einem anerkennenden Blick.
»Du wirkst geradezu wie aufgebügelt«, sagte er und lachte.
»Aber das bin ich doch auch«, erwiderte Anne und stimmte fröhlich in sein Lachen ein. Er lauschte wie damals, als er es zum ersten Male hörte. Es klang tatsächlich wie Musik.
»Daran zweifle ich gar nicht«, begann er wieder. »Ich meine nur, du wirkst so - so frisch. So ohne Kriegsbemalung und dergleichen.«
»Das würde wohl auch nicht unbedingt zu mir passen«, sagte Anne.
»Wo habt ihr euer Telefon?« fragte Jess. »Wir wollen versuchen, ob wir eine Taxe bekommen können. Es ist draußen viel zu schmutzig für deine hübschen Schuhe.« Anne steckte Schlüssel, Taschentuch, Portemonnaie und die Päckchen mit den Handschuhen in ihre Handtasche. Sie überlegte einen Augenblick, während Jess telefonierte, dann nahm sie das Weihnachtspaket von Frau Aspedal und die kleinen Päckchen von zu Hause ebenfalls mit. Im Hause des Kapellmeisters Daell, so dachte sie, wurden sicher Geschenke unterm Baum ausgetauscht. Und da war es für ihre Gastgeber sicher angenehm, wenn sie auch etwas auszupacken hatte.
So fuhr denn »Anne Hausgehilfin« im Auto auf Weihnachtsbesuch zu einem der berühmtesten Kapellmeister Dänemarks. Und im Wagen stahl sich Jess’ Hand in die ihre. Sie sagte nichts, gab ihm seinen Händedruck nicht zurück. Aber es tat so gut, ihn und seine Wärme zu spüren. Sie ließ ihre Hand in der seinen liegen und freute sich, daß es im Wagen dunkel war, und daß Jess ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Heiligabend bei Familie Daell
»Willkommen bei uns, Anne!« rief Frau Daell und schüttelte ihr die Hand. »Wie nett, daß Sie kommen konnten. Ich darf doch Anne zu Ihnen sagen, nicht wahr?«
Anne mußte herunterschauen, um der lebhaften kleinen Dame in die Augen sehen zu können. Du meine Güte - konnte das die Mutter von Jess sein! So klein, so schlank - und so jung?
Für einen kurzen Augenblick sah Anne in Gedanken ihre eigene Mutter vor sich. Die Mutter mit dem grauen Haar, mit den vielen Furchen, die Sorgen und harte Arbeit in ihr Antlitz eingemeißelt hatten. Die Mutter mit den kräftigen Händen, die so hart und so schwer hatten zupacken müssen. Die Mutter mit der starken, breiten, ein wenig gebeugten
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