Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
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»Ist es wahr, daß Sie gleichzeitig den Haushalt machen und Kinder warten und Muster stricken und Geige spielen und in die Schule gehen und eine der Besten in der Klasse sind?«
Anne lachte hellauf. Und Jess betrachtete sie augenzwinkernd. Es erging Anne genauso wie allen anderen in diesem Hause: Sie tauten auf, noch ehe sie fünf Minuten da waren.
»Ja, das meiste ist wahr«, gab Anne zu. »Aber ich spiele nur ganz wenig Geige. Dazu habe ich keine Zeit. Und was den Haushalt betrifft - ich helfe Aspedals nur ein bißchen.«
»Nana.«, meinte Jess. »Nur ein bißchen?«
»Doch, Jess. Das Wichtigste von meiner Arbeit ist, daß ich abends die Kinder besorge, denn Aspedals sind ziemlich viel aus. Aber dabei kann ich ja lesen und stricken und überhaupt tun, was ich will; die Kinder schlafen ja. Es ist eben nur nötig, daß ich da bin.«
Frau Daell hörte mit großen Augen zu. »Frau Aspedal hat aber wirklich Glück, daß sie so eine Hilfe wie Sie bekommen hat!« rief sie aus.
Jetzt war Anne an der Reihe, große Augen zu machen. »Das ist doch eher umgekehrt. Ich bin diejenige, die von Glück sagen kann. Ohne Frau Aspedal wäre ich wohl nie aufs Gymnasium gekommen.«
»Nein, nein«, sagte Frau Daell. Sie sah aus, als ob sie noch etwas hinzufügen wollte und sich dann besonnen hätte. Statt dessen drehte sie sich zu ihrem Manne um: »Entschuldige eine Frage, mein Herr und Meister; gedenkst du den Abend in der Hausjoppe zu verbringen?«
»Was? Haus. Ach, daran hab’ ich gar nicht gedacht! Einen Augenblick, ich werde.« Der Kapellmeister legte die lange Pfeife aus der Hand und verschwand. Kurz darauf erschien er in einer gestreiften Sammetjacke wieder.
»Ah, du bist unmöglich!« rief Frau Daell. »Anne, Sie dürfen keinen zu großen Schrecken über meinen Mann bekommen! Er hat nämlich einen Kleider-Komplex.«
»Ich finde, die Sammetjacke steht Herrn Daell gut«, rief Anne.
»Nicht wahr?« nickte Herr Daell befriedigt. »Außerdem habe ich sie im vorigen Jahr von meiner Frau zu Weihnachten bekommen. Übrigens, da wir gerade von Weihnachtsgeschenken reden - ich weiß nicht, ob ihr auch meint, es sei jetzt an der Zeit. Ich jedenfalls kann die Spannung nicht länger ertragen.«
»Wer ist das größte Kind in diesem Hause?« lächelte Frau Daell. Herr Daell erhob den Finger. »Ich«, sagte er. »Zündest du die Kerzen an, Jess?«
Jess stand auf. »Komm und hilf mir, Anne.« Der Baum stand auf einem Tisch in einer Ecke. Nie zuvor hatte Anne einen so schön geschmückten Baum gesehen. Sie kannte nur die Weihnachtsbäume von zu Haus, vom Pfarrhaus und von den Gemeindefesten. Die pflegten mit vielen bunten Glaskugeln und Glanzpapierkörbchen und glitzernden Ketten geschmückt zu sein. Dieser winzige Baum hier aber hatte nur weiße Lichter, einen silbernen Weihnachtsstern auf der Spitze, feinen glitzernden Schnee auf den Zweigen und war mit dem leichtesten Engelhaar übersponnen, das man sich denken konnte. Grün, Weiß und Silber. - Nichts anderes.
»Wunderhübsch ist der Baum«, sagte Anne und betrachtete ihn lange.
»Ja. Mutter versteht ihn auch zu putzen. Aber anzünden muß ich ihn immer. Wir haben in diesem Hause feste Traditionen, wie du siehst.«
Ein Haufen von Paketen lag unter dem Weihnachtsbaum, Anne bemerkte ihn und holte ihre Tasche aus dem Flur herein.
»Hier sind die Fausthandschuhe für deine Mutter, Jess. Und dann habe ich auch meine eigenen Pakete mitgenommen. Ich sollte sie nämlich erst am Heiligabend aufmachen.«
»Dazu wäre ich viel zu neugierig«, meinte Jess. »Zünde mal die Lichter auf dieser Seite an, bitte - hier sind Streichhölzer.«
Mit pochendem Herzen zündete Anne eine Kerze nach der anderen an. Sie war so unbegreiflich froh - sie fühlte sich wie zu Hause bei diesen Menschen, die sie doch erst seit einer Stunde kannte. Nie zuvor, so schien es ihr, hatte die Weihnachtsstimmung sie so ganz erfüllt wie an diesem Abend.
Sie kauerte sich in einen Sessel und schaute in den Baum. Jess setzte sich an den Flügel und spielte nacheinander alle bekannten Weihnachtslieder. Anne hörte andächtig zu. Sie nickte immer, wenn eine neue Melodie erklang. Sie ahnte nicht, daß Kapellmeister Daell kaum die Augen von ihr abwenden konnte. Während er ganz still in seinem Ohrensessel saß, hing sein Blick an dem jungen, hellen Gesicht mit den wachen Augen. Er empfand genau das gleiche wie Jess: Diese Anne ist ein kleines Stück Norwegen.
Jess stand auf. »So«, sagte er. »Jetzt kann’s
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