Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
still. Sie ging am Wasser entlang, das seidigglänzend und blauschwarz dalag. Hie und da hörte sie ein leises Rascheln aus dem Heidekraut, winzigkleine Geräusche, winzigkleine Töne der Natur, die im Begriff war, zur Ruhe zu gehen.
Der westliche Himmel war flammend rot. Und ehe noch die Sonne richtig untergegangen war, guckte schon der Mond hinter dem Bergkamm herauf.
Anne ging über den Hang. Sie war wieder zu sich gekommen, ging stetig und ruhig, ohne anzuhalten und ohne sich zu übereilen. Sie verstand sich auf die Kunst, im Gebirge zu wandern.
Dann war sie oben. Dort war der Block. Wie groß er geworden war! Sie konnte jetzt kaum bis zu dem kleinen Buckel hinaufreichen, den sie damals unter ihrem Kopf gefühlt hatte, als sie auf den Skiern saß und sich gegen den Stein gelehnt hatte. Wie hoch der Schnee doch damals hier gelegen hatte!
Sie lehnte sich an den Felsblock, legte die glühende Wange gegen seine harte Kälte. Und schloß die Augen. Sie spürte Jess’ Nähe, spürte die Wärme, die von ihm ausging. An der Wange fühlte sie die harte Rauheit des Felsblocks, desselben Felsens, der ihr Kraft, Unbeugsamkeit und Härte geschenkt hatte.
Ihre Tränen tropften auf den Stein, der sie nicht aufsog, sondern sie weiter zur Erde rollen ließ. »Was gehen deine Tränen mich an, Mensch?« schien der Stein zu sagen. »Sieh zu, daß du mit deinen Sorgen allein fertig wirst. Mach dich hart, wie ich es bin. Sei stark wie ich. Sei unverrückbar wie ich. Bleib mir vom Leibe mit deinen Tränen!«
Als Anne den Abstieg antrat, war sie wieder ruhig und mit sich selbst im Gleichgewicht. Ja, es fehlte nicht viel, und ein kleines Lächeln hätte sich in ihre Mundwinkel gestohlen.
Das Fräulein mit dem Strubbelhund
Frau Sönderbye war abgereist. Über die Geschichte mit dem Geld war nicht mehr gesprochen worden. Aber die Freude an der Arbeit hatte Anne seitdem eingebüßt. Sie tat ihre Pflicht automatisch, sie war höflich und dienstbereit zu den Gästen, doch ihr Lächeln war erloschen.
In den Sommermonaten blieb nie ein Zimmer sehr lange leer stehen. Ein neuer Gast zog auf Nummer 26 ein. Am ersten Abend, als Anne nach Nummer 26 hineinging, hüpfte etwas Kleines, Strubbeliges und Weißes vom Bett herunter und stürzte ihr begeistert entgegen. »Nanu, du kleines Hundchen!« sagte Anne. Sie ahnte nicht, daß der neue Gast einen Hund mitgebracht hatte, ja, sie wußte nicht einmal, wer der neue Gast war. Sie schloß nur aus all den Cremebüchsen und Puderdosen und Flakons, die auf dem Waschtisch standen, daß es eine Dame war.
Das Hündchen kläffte begeistert und kratzte spielerisch an ihren Schuhen. Sie hob es auf ihre Arme, und es leckte sie liebevoll. Sie streichelte und klopfte den kleinen Kerl, es tat so gut, die Wärme des weichen Tierkörpers zu fühlen und zu merken, wie er sich über ihre Liebkosungen freute.
Da ging die Tür auf, und eine Dame trat ein. »Oh, Verzeihung!« sagte Anne und setzte den Hund nieder.
Die Dame lächelte. »Wie nett, daß Sie mit Pettie Freundschaft geschlossen haben! Ich mußte ihn allein oben lassen, während ich zum Essen war. Ich hoffe doch nicht, daß er gebellt hat.«
»Aber, nein«, entgegnete Anne. »Er lag so artig auf dem Bett, als ich kam.«
Die Dame errötete. »Fürchterlich, nicht wahr? Aber schauen Sie her, er hat seine eigene Decke mit, die breite ich immer übers Bett -dann liegt er nicht direkt auf dem Bettzeug.«
Anne lachte. »Das macht doch nichts. Er ist ja so rein und so appetitlich.«
»Ja, ich halte ihn auch sehr sauber. Nicht wahr, Pettie? Jetzt wird Frauchen gleich ein bißchen Essen für dich holen, Pettie.«
»Kann ich das nicht tun?« fragte Anne. »Ich laß mir etwas Gutes vom Koch geben.« Anne stand mit einem der Köche auf besonders gutem Fuße.
»Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen. Wissen Sie, es ist immer ein bißchen schwierig mit einem Hund im Hotel. Oft wird die Bedienung so ungeduldig.«
»Nein«, rief Anne. »Warten Sie einen Augenblick! Ich will sehen, was sich machen läßt.«
Kurz darauf kehrte Anne mit einem großen Teller voll Koteletteknochen, Soße und Kartoffeln wieder. Der Koch hatte gutmütig gelächelt und gefragt, ob das Futter etwa für das kleine Knäuel von Fräulein Tvilde wäre. Ja, er kenne die Dame, sie sei im Frühjahr ein paar Tage hier gewesen, kurz nach Ostern. Wie die an dem Hund hing! Ging nie ohne ihren Pettie aus der Tür, und die Abende verbrachte sie tatsächlich auf ihrem Zimmer immer mit Pettie
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