Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
solche Summe als Trinkgeld anzunehmen.
Der Abschied zwischen ihr und Fräulein Tvilde war sehr herzlich. Und Pettie leckte ihr übers ganze Gesicht, zum Dank für das schöne Freßpaket, das Anne für ihn zurechtgemacht hatte.
Als sie nach Nummer 26 hineinging, um die Bettwäsche zu holen und das Zimmer für den nächsten Gast zurechtzumachen, fand sie ein Paket auf dem Tisch. »Für mein liebes Kindermädchen Anne Viken mit tausend Dank für Fressen und Wartung von Pettie.«
Anne betrachtete die kecke Steilschrift und mußte lachen. Dann öffnete sie das Paket. Es enthielt ein Paar wunderhübsche Schuhe, elegant, einfach und bequem. Anne zog sie an, sie waren federleicht. Sie sah sie sich genauer an und riß die Augen weit auf. Denn es war dieselbe kostbare Marke wie Fräulein Tvildes eigene Schuhe.
So mußte Anne denn wieder einen Brief schreiben. Und sie tat es diesmal mit einem bis an den Rand mit Freude und Dankbarkeit angefüllten Herzen.
Neue Sorgen
Anne reiste in die Stadt zurück. Ihr Gepäck war um ein Paar feine Schuhe, einen kleinen Kasten voller Geld, verbesserte Sprachkenntnisse und eine riesige Menge Erfahrungen bereichert worden. Nun richtete sie sich in dem Mädchenstübchen bei Oberlehrer Hagensen häuslich ein.
Sie dachte damals, sie habe das Zimmerchen zu günstigen Bedingungen bekommen. Aber als sie sich jetzt näher umschaute, wurde ihr der Grund auch klar. Hagensens Wohnung lag in einem Haus, das kurz vor der Jahrhundertwende erbaut worden war. Hoch unterm Dach war sie und bestand aus riesigen Zimmern, aus Schnörkelkram über den Türen, Gipsrosetten an der Decke, langen Fluren - und einer winzigen Mädchenkammer. Der Eingang war von der Hintertreppe aus, die Aussicht ging auf einen Hinterbalkon, wo Besen und Abfalleimer standen.
Außer dem Bett hatten noch eine kleine Kommode, ein Lattenstuhl und ein Tisch Platz. Über die eine Ecke war quer ein Vorhang gespannt, hinter dem Anne ihre Kleider verstauen konnte. Es war nicht gerade luxuriös, wahrlich nicht.
Aber das Haus war kürzlich modernisiert worden. Unter anderem hatte man Badezimmer und elektrische Zentralheizung eingebaut. Und welchen Wert es für Anne hatte, daß ihr Zimmer warm war, das konnte sie sich leicht ausrechnen. Da nahm sie die Nachteile gern in Kauf.
Das erste, was sie tat, war, sich in der obersten Kommodenschublade ihre Speisekammer einzurichten. Brot, Margarine und ein Stück Käse kamen hinein. Sonst nichts. Das Morgenfrühstück würde sie ja bei Hagensens bekommen, und zu Mittag wollte sie auswärts essen.
So begann denn Annes Budendasein.
Sie stand um halb sechs Uhr auf und verrichtete die Arbeit, zu der sie sich verpflichtet hatte. Am ersten Tag genoß sie ihre Freiheit. Keiner rief: »Anne, Anne!« und keiner wollte etwas von ihr. Sie konnte sich in Frieden hinsetzen und ihre Strümpfe stopfen, sie konnte Briefe nach Hause schreiben - und das allerbeste: Sie konnte mit ruhigem Gewissen zum Mittagessen zu Jess gehen.
Er hatte sie am Abend zuvor vom Bahnhof abgeholt und wollte sie mit nach Hause nehmen. Aber es war spät, und Anne war müde, außerdem durfte sie nicht allzu spät in ihrer neuen Behausung ankommen - es reichte also nur zu ein paar Begrüßungsworten, einem warmen Händedruck und einem schnellen, verstohlenen Kuß.
Aber jetzt konnte sie den ganzen Nachmittag in Ruhe und Frieden bei Jess sein und sich von seinen Sommererlebnissen erzählen lassen - und Eva wiedersehen und Onkel Herluf. Es war gerade, als sei sie nach Hause gekommen.
Anne sprach es auch aus, als sie beim Nachmittagskaffee saßen. Und dann lächelte sie zu ihren eigenen Worten.
»Nun - worüber lachst du?« fragte Eva.
»Ich muß daran denken, wie verschieden sie sind, meine beiden Zuhause«, sagte Anne. »Ich frage mich oft, was ihr wohl zu meinem Zuhause sagen würdet. Ich meine das in Möwenfjord. Ich frage mich, ob ihr wohl mit Mutter Kontakt bekommen würdet. Mutter ist so anders als ihr - in jeder Beziehung anders.«
»So?« sagte Onkel Herluf und paffte auf seiner langen Pfeife. »Sag mal, Anne, ist deine Mutter - ja, ist sie zum Beispiel gastfrei?«
»Ja, das ist sie.«
»Ein Punkt, in dem du hoffentlich nicht der Ansicht bist, daß sie anders ist als wir. - Ist sie ein rechtschaffener Mensch?«
Anne lachte hellauf. »Onkel Herluf, ich weiß schon, worauf du hinauswillst. Natürlich, sie ist rechtschaffen und ehrlich und freundlich und warmherzig und arbeitsam und pflichttreu, genau wie ihr. Aber.«
»Na, wenn
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