Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Frau Sönderbye, »daß Sie mir versichern, Sie hätten auch nichts anderes genommen. Danach habe ich zwar nicht gefragt, aber das verringert nicht den Verdacht gegen Sie! Ich halte mich an die Tatsache, daß Sie die einzige waren, die in meiner Abwesenheit hier im Zimmer gewesen ist!«
Anne weinte vor ohnmächtiger Wut und lief davon. Es war ihr völlig klar, daß sie es auf der Stelle der Hausdame melden müsse -sie mußte nur eben ihr Gesicht kühlen und die schlimmsten Tränenspuren tilgen.
Zehn Minuten später war Anne zur Hausdame unterwegs - hielt aber vor der Tür inne.
»Ja, es ist bedauerlich, aber Tatsache«, hörte sie Frau Sönderbyes Stimme von drinnen. »Sagen Sie mal, was wissen Sie denn eigentlich über das junge Mädchen? Gymnasiastin, die eine Ferienarbeit angenommen hat? Braucht natürlich Geld. Das verstärkt meinen Verdacht nur noch. Die Verführung ist für sie zu groß gewesen. Tja, die Ärmste. Sie können ihr sagen, daß ich Gnade vor Recht ergehen lassen will, falls sie mir das Geld sofort mit einer Entschuldigung zurückbringt.«
»Frau Sönderbye«, ertönte jetzt die gedämpfte, beherrschte Stimme der Hausdame. »Selbstverständlich wird die Sache auf der Stelle untersucht. Aber ich muß gestehen, es fällt mir sehr schwer zu glauben, daß ausgerechnet Fräulein Viken.«
»Wenn man so viel in der Welt gesehen hat wie ich«, unterbrach Frau Sönderbye sie, »dann verwundert einen nichts mehr. Man erlebt immer die unerwartetsten Dinge. Hinter dem unschuldigsten Gesicht kann sich das unehrlichste Gemüt verbergen. Ja«, schloß sie, »ich habe Ihnen die Sache gemeldet und erwarte, daß mir das Geld noch vor dem Abend zurückerstattet wird!«
Anne zog sich blitzschnell in einen Winkel zurück, um Frau Sönderbye nicht begegnen zu müssen. Dann ging sie zur Hausdame hinein, die mit gerunzelten Brauen und fest aufeinandergepreßten Lippen vor ihrem Schreibtisch saß.
»Frau Legard - ich habe das Geld nicht genommen! Ich habe es nicht einmal gesehen.«
Die Hausdame sah sie an. »Es fällt mir auch sehr schwer, das zu glauben, Fräulein Viken. Aber es ist leider eine Tatsache, daß Sie die einzige waren, die in dem Zimmer gewesen ist.«
»Wäre es denn nicht denkbar, daß Frau Sönderbye sich irrt?«
Die Hausdame zuckte die Achseln. »Schwerlich. Sie ist schon früher hier gewesen, ich kenne sie. Und sie pflegt ihre Angelegenheiten vorzüglich in Ordnung zu haben. Es ist eine äußerst dumme Geschichte für unser Hotel, Fräulein Viken!«
»Fürs Hotel?« entfuhr es Anne. »Und für mich?«
»Ich muß an den Ruf des Hotels denken, Sie verstehen.«
»Und ich an meinen eigenen Ruf.«
»Nun - was wollen Sie denn tun?«
»Tun? - Ich werde doch nichts tun! Sind Sie denn der Ansicht, ich sollte versuchen, etwas wiedergutzumachen, was ich nicht verbrochen habe?«
Anne vergaß die Höflichkeit, die sie in der letzten Zeit angenommen hatte. Sie sprühte von Zorn, tief gekränkt.
»Regen Sie sich nicht auf!« sagte die Hausdame kühl. »Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit! Ich werde über die Angelegenheit nachdenken.«
Anne verließ das Zimmer. Sie zog die Tür ein ganz klein wenig lauter hinter sich zu als notwendig.
Es machte ihr unsagbare Mühe, während des Servierens beim Mittagessen eine höfliche Maske aufzusetzen. Sobald die Gäste sich mit ihren Kaffeetassen in die Salons zurückgezogen hatten, lief sie nach oben.
Die Schreibtischschublade, hatte Frau Sönderbye gesagt. Und Frau Legard hatte behauptet, Frau Sönderbye wisse über ihre Angelegenheiten bestens Bescheid. Die Schreibtischschublade. Hatte Frau Sönderbye auch ordentlich gesucht? Wenn sich nun der Umschlag irgendwo verkrochen hatte..
Anne hatte nicht die geringsten Gewissensbisse, als sie Nummer 26 aufschloß und die Schreibtischschublade öffnete. Es war eine flache, kleine Schublade in einem modernen Birkenholzschreibtisch. In der Schublade lag die lederbezogene Schreibmappe des Hotels. Anne öffnete sie. Drinnen befanden sich nur ein paar Bogen Schreibpapier und Umschläge mit dem Namen des Hotels darauf. Sie fühlte mit der Hand tiefer in die Schublade hinein, an allen Seitenrändern entlang. Ein paar Hotelprospekte. Ein Eisenbahnfahrplan. Ein Schreibblock. Weiter nichts.
Anne seufzte und legte die Schreibmappe zurück. Sie stellte fest, daß die Mappe die Schublade fast ausfüllte. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Wie nun, wenn der peinliche Umschlag oben auf der Mappe gelegen hatte - und dann irgendwo
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