Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
dem sie sitzen durfte, so oft es sie gelüstete. Bei Aspedals hatte sie ja beinahe zur Familie gehört. Bei Hagensens aber war sie auf die kleine schmale Mädchenkammer angewiesen.
Schon an diesem ersten Abend entbehrte sie einen guten Sessel. Ihr Rücken wurde müde, nachdem sie stundenlang auf dem Lattenstuhl gesessen und gestrickt hatte. So stapelte sie denn das Bettzeug zu einer Art Rückenstütze übereinander und setzte sich aufs Bett. Es war ein wenig besser, aber auf die Dauer saß sie doch recht unbequem.
Aber die Stricknadeln klirrten, und Anne biß die Zähne zusammen und sprach sich selber Mut zu. Es handelte sich ja nur um dies eine Jahr - nur neun Monate, dann würde sie das Abitur machen und konnte sich die schwarze Studentenmütze aufsetzen und.
Bei dem Gedanken an das, was das Schicksal sonst noch für sie im Hinterhalt hatte, schlug ihr Herz schnell und laut.
Sie glitt rasch in den neuen Alltag hinein. Wahrlich, sie hatte viel zu tun, obwohl sie sich ihre Zeit jetzt allein einteilen durfte. Wenn sie an das Jahr bei Aspedals zurückdachte, so begriff sie fast nicht, wie sie es geschafft hatte. Sich vorzustellen, daß sie zu all dem anderen obendrein auch nachmittags noch Hausarbeit machen, Besorgungen erledigen, Kinder waschen, ausziehen und ins Bett stecken sollte!
Von den beiden Kindern der Familie Hagensen sah sie nur wenig. In der Regel waren sie noch nicht aus dem Bett, wenn Anne um acht Uhr mit den Fußböden und dem Aufwasch vom Tag vorher fertig war, ihr Schulbrot gestrichen und ihr Morgenfrühstück gegessen hatte. Frau Hagensen hatte Anne in der Speisekammer alles gezeigt: »Sie können immer von dem nehmen, was auf dem untersten Bort steht«, hatte sie gesagt. Und was auf dem untersten Bort stand, war in der Regel nicht besonders reizvoll. Brot, Margarine, Molkenkäse und ab und zu ein wenig Marmelade. Ganz selten einmal hatte Frau Hagensen ein Ei für sie dazugelegt. Ihren Kaffee kaufte sie selbst. Früher hatte sie sich nie etwas aus Kaffee gemacht. Aber jetzt regte er sie an, wenn sie von ihrer Morgenarbeit müde war - gar nicht davon zu reden, daß sie hin und wieder abends ihre Zuflucht zum Kaffee nahm, wenn sie eine gepfefferte Englischarbeit vor sich hatte oder einen langen, zähen Ärmel fertigstricken mußte. Gesund war es nicht - aber was sollte sie tun? Nur dies Jahr noch, sagte Anne bei sich selbst. Nur dies Jahr. Und diese drei Worte wurden für sie zu einer Zauberformel, die sie hochhielt.
Natürlich konnte sie immer zu Jess gehen. Sie war zu jeder beliebigen Zeit dort willkommen. Aber da war etwas, das sie zurückhielt, und zwar ein Brief von der Mutter. Sie hatte ihn immer und immer wieder gelesen.
Es war ein Ereignis, wenn Mutter einen nur leidlich langen Brief schrieb. Anne lächelte. Sie sah die Mutter so deutlich vor sich. Einen Brief schreiben gehörte zu den Dingen, die bei Mutter einen Tag im voraus geplant wurden - wenn das reichte. Dann schaffte Mutter alle Arbeit auf die Seite, so daß sie Ruhe zum Schreiben hatte. Die Lampe wurde angezündet und auf den Klapptisch gestellt, und aus der Schublade wurden Briefpapier und Umschlag genommen, das Tintenfaß und den Federhalter holte Mutter aus dem Eckschrank. Dann wurde die Brille aufgesetzt, und Mutter schrieb - mit langen Pausen dazwischen, mit viel Nachdenken.
Keiner konnte behaupten, daß Mutters Briefe flüssig geschrieben oder phantasievoll wären. In der Regel waren sie kurz und erzählten in nüchternen Worten von den kleinen Ereignissen zu Hause.
»Schecke hat in der vorigen Woche gekalbt. Es ist ein Stierkalb gewesen, das wir zum Schlachten verkaufen. Eldrid auf Brät hat die Stellung beim Krämer angetreten, Solveig hat nämlich diesen Sommer geheiratet. Uns geht es in allen Stücken gut, und dasselbe hoffe ich herzlich auch von Dir. Schreib bald Deiner getreuen Mutter.«
So lauteten Mutters Briefe. Sie waren frei von Gerede und Gefühlen, und über die dürren Neuigkeiten vom Dorf und Möwenfjord hinaus enthielten sie wenig.
Darum war der letzte Brief von Mutter etwas ganz Besonderes. Er war lang, aber er hatte kurze Sätze - und gerade weil Mutter kein Meister im Schreiben war, hatten die kurzen, knappen Sätze Gewicht, und jedes der sparsamen Worte stand auf dem Papier und in Annes Bewußtsein wie eingemeißelt:
»Ich denke viel an Dich, Anne. Ich hoffe und bete, daß auch in diesem Jahr mit Dir alles gut gehen möge. Ich weiß, daß Du hart arbeitest, und davon hat noch keiner Schaden
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