Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
nicht im Bett?“
„Nein, ich wollte doch mal sehen, wie es geht.“
Kristina prüfte Schecke mit erfahrenem Blick. Es arbeitete in dem schwerfälligen Kuhleib, Muskeln spannten sich, und Schecke brüllte wieder.
„Ach ja, du Arme“, sagte Mutter Kristina. „Meine Schecke. Bald ist es vorüber, sollst mal sehen. Gib mir etwas Stroh, Anne.“
Der Leib wurde von neuem gerieben, mit langen, sicheren, erfahrenen Bewegungen. „Glaubst du eigentlich, sie hat Schmerzen, Mutter?“
„Ach ja. Die hat sie sicher. Aber es dauert jetzt nicht mehr lange.“
„Geh nur hinein, Mutter.“
„Ich glaube, ich bleibe hier bei dir“, sagte Mutter Kristina. „Es ist bald vorüber.“
Sie sprachen nichts weiter, Mutter und Tochter. Sie warteten darauf, daß eines der Wunder dieses Lebens sich vollziehen sollte.
Da lief ein heftiges Zucken durch Scheckes Leib. Mutter Kristinas starke, kundige Hände griffen um etwas Dunkles, Feuchtes, Lebendiges. Anne half mit. Und gleich darauf hielt sie ein nasses, zappelndes Bündel in den Armen. „Dem Herrgott sei Dank“, sagte Mutter Kristina. Das Wunder war vollbracht.
Anne hatte das Kälbchen trocken gerieben und in den Kälberstand gesetzt. Dann hatte sie Schecke zu trinken gegeben und sie gemolken.
Eine gesegnete, warme Ruhe lag über dem Stall.
Anne trug die Laterne und Mutter Kristina den Eimer mit der Biestmilch. Sie lächelten einander zu, als sie in die Küche kamen und dort Licht machten. Anne zündete den Primuskocher an. Es war nicht das Richtige, so spät Kaffee zu trinken, aber sie sowohl als auch Mutter Kristina hatten jetzt ein unbändiges Verlangen nach einer Tasse heißem Kaffee.
Sie ließen sich am Küchentisch nieder. Mutter Kristina strich Fladenbrote, streute Zucker darauf und legte sie Anne vor.
„Iß, mein Kind. Du hast heute abend noch nichts gegessen.“
Anne rollte die Scheibe zusammen und biß hinein. Dann wischte sie sich den Zucker vom Mund und lächelte. „Ich muß immer an Jess denken, wenn ich Fladenbrot esse.“
„Du wirst wohl auch sonst an ihn denken“, sagte Mutter Kristina. In ihren Augen lauerte ein kleines Lächeln.
„Ja“, sagte Anne.
„Du bekommst einen guten Mann, Anne.“
„Ja, Mutter. Und einen begabten Mann.“ Mutter Kristina nickte. Sie hatte auch die Kritiken gelesen, die Jess bekommen hatte. Sie hatte alle Zeitungsausschnitte in die oberste Kommodenschublade gelegt. Mit erstaunten Augen hatte sie die Bilder betrachtet - von Jess am Flügel, von Jess neben dem Vater, und das seltsamste von allen: Jess und Anne nach dem Konzert, wie sie sich umschlungen hielten.
„Der jungverlobte Jess Daell besiegt das Kopenhagener Musikpublikum vollständig“, war die Überschrift dieser Besprechung.
Die andern Überschriften waren nicht schlechter: Der Komponist Jess Daell erregt mit Schumanns Klavierkonzert Jubel - Ein Erstlingskonzert mit ungeahnten Verheißungen - Jess Daell setzt sich mit einundzwanzig Jahren durch.
„Das hier ist für dich jetzt eine andere Kost, Anne“, meinte Mutter Kristina, genau wie Liv neulich.
„Es ist gesund, mit der Kost etwas abzuwechseln“, lächelte Anne.
Sie sagte nichts darüber, wie groß ihre Sehnsucht war. Sie behielt es bei sich, und keiner erfuhr, daß das Kopfkissen hin und wieder ein bißchen feucht von Tränen war.
Wenn sie sich vorstellte, daß Jess gerade jetzt ins Konzert fuhr -jetzt in dem hellen Musikzimmer saß und übte - jetzt vielleicht über den Rathausplatz ging - daß er jetzt gerade erwachte und seine Gedanken nach Möwenfjord gingen - dann hatte sie eine fast schmerzhafte Sehnsucht.
Ja, die Güter der Welt waren ungleich verteilt.
Sie entbehrte diesmal die Erleichterungen, die das Stadtleben mit sich brachte. Sie entbehrte das elektrische Licht, das Telefon, das Bad, die Läden, in die sie schnell einmal laufen konnte. Sie entbehrte das fließende Wasser, das elektrische Bügeleisen - nie war ihr die Arbeit so schwer erschienen wie diesmal.
Da kam wieder ein Brief von Jess. „. und jetzt übe ich das Klavierkonzert Nr. 4 von Beethoven. Ich schufte wie ein Kuli, und ich komme auch voran. Es ist vorgesehen, daß ich es im Januar mit dem Radioorchester zusammen spielen soll.
Und dann muß ich Dir noch erzählen, Anne, daß ich das Stipendium bekommen habe. Aber ich bin nicht verpflichtet, sofort zu reisen. Ich darf bis zum Frühjahr warten - und dann, Anne - dann wird das eine Stipendium-Studien-Hochzeitsreise, alles auf einmal.
Ja, ich habe große Sehnsucht,
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