Anne auf Green Gables
Puffärmel zu einem Picknick zu gehen, aber es wäre ganz schrecklich, wenn ich ohne Korb hingehen müsste. Der bloße Gedanke daran quält mich schon, seitdem mir Diana davon erzählt hat.«
»Na, dann braucht er dich jetzt nicht weiter zu quälen. Ich werde dir deinen Picknickkorb schon füllen.«
»Oh, Marilla, du bist so gut zu mir! Ich bin dir ja so dankbar!«
Mit diesen Worten warf sie sich in Marillas Arme und küsste stürmisch die blassen Wangen der alten Frau. Es war das erste Mal, dass Kinderlippen Marillas Gesicht berührten, und ein süßer Schauer lief durch ihren ganzen Körper. Doch die unverhoffte Freude über Annes Zärtlichkeiten verwirrte sie. In etwas schroffem Ton sagte sie schnell: »Na, na, lass doch den Unsinn. Es wäre mir lieber, du hieltest dich an das, was ich dir sage. Und was das Kochen angeht, so werden wir schon in den nächsten Tagen mit dem Unterricht beginnen. Jetzt aber rasch an die Arbeit! Deine Nähsachen warten schon.«
Seufzend setzte sich Anne auf einen Stuhl und beugte sich über ihre Arbeit.
»Ich wünschte, beim Nähen würde die Zeit ebenso schnell vergehen wie beim Spielen mit Diana«, sagte sie nach einer Weile. »Kennst du das schmale Feld auf der anderen Seite des Baches? Es liegt zwischen unserer Farm und der von Mr Bariy und gehört Mr William Bell. An einer Seite steht eine Gruppe weißer Birken - der romantischste Ort, den man sich vorstellen kann, Marilla! Diana und ich haben dort unser Spielhaus gebaut. Wir nennen es >Idlewild<. Ist das nicht ein wunderschöner Name? Ich habe eine ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht, bis er mir endlich eingefallen ist. Diana war einfach hingerissen, als sie ihn zum ersten Mal hörte. Wir haben unser Haus vornehm eingerichtet. Du musst uns mal besuchen kommen, dann kannst du dir alles anschauen. Wir haben große, moosbewachsene Steine als Sessel und alte Bretter zwischen den Ästen als Regale, auf denen unser ganzes Porzellan steht. Natürlich ist alles kaputt, aber es ist doch das Einfachste von der Welt, sich vorzustellen, es sei heiles, wunderschönes Porzellan. Auch das >Feenglas< steht dort. Es ist traumhaft schön. Diana hat es unter den Bäumen hinter ihrem Hühnerhaus gefunden. Wenn die Sonne scheint, ist es voller kleiner Regenbogen - sie sind wahrscheinlich nicht groß genug, um am Himmel zu stehen. Dianas Mutter hat gesagt, das Glas stamme von einer alten Hängelampe, aber wir glauben, dass die Feen es eines Nachts bei einem Ball verloren haben, und deshalb nennen wir es >Feenglas<.
— Den keinen runden Teich drüben in Mr Barrys Feld haben wir >Willowmere< genannt. Der Name stammt aus einem Buch, das mir Diana neulich geborgt hat. Es handelt von einer Heldin mit fünf Verehrern. Naja, ich wäre auch schon mit einem zufrieden - du auch, Manila? Jedenfalls war sie sehr schön und musste große Prüfungen bestehen. Bei jeder Gelegenheit fiel sie in Ohnmacht. Ich würde auch gerne mal in Ohnmacht fallen - das stelle ich mir entsetzlich romantisch vor! Leider bin ich viel zu gesund dafür, obgleich ich so dünn bin. Ich habe allerdings in letzter Zeit etwas zugenommen, meinst du nicht? Ich schaue mir jeden Morgen meine Ellenbogen an, ob sich schon Grübchen bilden. - Diana hat ein neues Kleid mit Ärmeln, die nur bis zum Ellenbogen reichen. Sie will es zum Picknick tragen. Oh, ich hoffe, wir haben nächsten Mittwoch gutes Wetter! Wir wollen auf dem >See der glitzernden Wasser< auch eine Bootsfahrt unternehmen - und hinterher gibt es dann Eiskrem. Ich habe noch nie in meinem Leben Eis gegessen. Diana hat versucht mir zu erklären, wie es schmeckt, aber ich fürchte, Eis ist eins der Dinge, die jenseits aller Vorstellungskraft liegen!«
»Anne, du hast eben fast zehn Minuten ununterbrochen geredet«, sagte Marilla. »Lass uns doch mal sehen, ob du auch in der Lage bist, ebenso lange ununterbrochen deinen Mund zu halten.«
Anne wurde muckmäuschenstill und bestand mit einiger Mühe die Prüfung, die Marilla ihr auferlegt hatte. Doch den ganzen Rest der Woche waren alle ihre Gespräche, Gedanken und Träume nur von dem Picknick erfüllt.
Als es am Samstag zu regnen anfing, steigerte sie sich so sehr in die Befürchtung hinein, es könnte bis zum Mittwoch weiterregnen, dass Marilla ihr zur Beruhigung eine extra Nähstunde verschrieb.
Am Sonntag gestand sie Marilla auf dem Heimweg von der Kirche, dass sie vor Aufregung eine dicke Gänsehaut bekommen habe, als der Pfarrer das Picknick von der Kanzel
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