Anne auf Green Gables
du nicht, dass du sie doch zum Picknick lassen solltest -wo doch ihr Herz so daran hängt?«
»Matthew Cuthbert, ich kann mich nur über dich wundern. Ich finde, ich habe sie noch viel zu milde bestraft. Und sie scheint nicht im Geringsten einzusehen, wie ungezogen sie war - das macht mir am meisten Kummer! Wenn es ihr wirklich Leid täte, wäre alles halb so schlimm. Und du versuchst auch noch sie in Schutz zu nehmen!«
»Sie ist doch noch so klein«, wiederholte Matthew mit sanfter Stimme. »Und wir müssen ihr einiges nachsehen, Marilla. Sie hat nie irgendeine Erziehung genossen.«
»Dann ist es höchste Zeit, dass sie sie jetzt bekommt«, erwiderte Marilla scharf.
Der Rest des Mittagessens verlief in eisigem Schweigen. Als sie das Geschirr gespült, den Brotteig angesetzt und ihre Hühner gefüttert hatte, erinnerte sich Marilla auf der Suche nach weiterer Beschäftigung an einen Riss in ihrem Spitzenschal und beschloss ihn zu flicken.
Der Schal befand sich in einer Schachtel in ihrem Kleiderschrank. Als Marilla ihn herauszog, fiel das Licht auf etwas Glitzerndes. Marilla hielt den Atem an - es war die Amethystbrosche!
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Als sie am Montagabend vom Frauenhilfswerk nach Hause gekommen war, hatte sie den Schal für ein paar Minuten auf die Kommode gelegt. Wahrscheinlich hatte sich die Brosche in den Spitzen verfangen und sie hatte sie - ohne es zu merken - mit dem Schal in den Schrank gepackt.
Mit der Brosche in der Hand stieg Marilla zum Ostgiebel hinauf. Anne saß niedergeschlagen am Fenster, sie war erschöpft vom vielen Weinen.
»Anne Shirley«, sagte Marilla feierlich. »Ich habe gerade meine Brosche wieder gefunden. Sie hatte sich in meinem schwarzen Spitzenschal verfangen. -Jetzt möchte ich aber wissen, was es mit dem Märchen auf sich hatte, das du mir heute Morgen aufgetischt hast.«
»Na, du hast doch gesagt, dass ich so lange hier bleiben müsste, bis ich ein Geständnis ablege«, erwiderte Anne matt. »Und da du die Wahrheit nicht geglaubt hast und ich unbedingt zum Picknick gehen wollte, habe ich mir gestern Abend im Bett ein Geständnis ausgedacht - etwas möglichst Interessantes. Dann habe ich es immer wieder vor mich hingesprochen, damit ich es nicht vergesse. Aber du hast mich trotzdem nicht zum Picknick gehen lassen, es war also alles umsonst.«
Marilla musste lachen. Gleichzeitig bekam sie heftige Gewissensbisse.
»Anne, du bist doch nicht zu schlagen! Aber ich habe dir Unrecht getan, das ist mir jetzt ganz klar. Ich hätte deine Ehrlichkeit nicht anzweifeln dürfen, weil ich dazu bisher noch nie Grund gehabt habe. Natürlich war es nicht richtig von dir, etwas zu gestehen, was du gar nicht getan hast. Aber ich habe dich dazu getrieben und das tut mir wirklich sehr Leid. Wenn du mir verzeihen willst, Anne, verzeihe ich dir auch - dann sind wir wieder quitt. Und jetzt mach dich schnell für das Picknick fertig.«
Wie eine Rakete sprang Anne aus ihrem Stuhl hoch. »Ist es denn noch nicht zu spät?«
»Nein es ist zwei Uhr. Die anderen haben sich gerade erst versammelt, du kannst es also noch schaffen. Wasch dein Gesicht, kämm deine Haare und zieh dein braunes Kleid an. Ich werde deinen Picknickkorb fertig machen und Jerry Bescheid sagen, damit er dich mit Pferd und Wagen zum Picknickplatz fahren kann.«
»Oh, Marilla«, rief Anne und sauste schnell wie der Wind zum Waschtisch hinüber. »Vor fünf Minuten war ich noch so traurig, dass ich wünschte, ich wäre nie geboren, und jetzt würde ich nicht einmal mit einem Engel tauschen wollen!«
An jenem Abend kehrte eine vollkommen glückliche und erschöpfte Anne nach Green Gables zurück.
»Es war ein himmlischer Tag, Marilla! Alles war wunderschön. Nach dem Essen ist Mr Andrews mit uns auf dem >See der glitzernden Wasser< rudern gegangen - immer sechs Mädchen in einem Boot. Jane Andrews ist fast über Bord gegangen. Sie wollte eine Seerose pflücken und hat sich so weit herausgebeugt, dass sie plötzlich das Gleichgewicht verloren hat. Wenn Mr Andrews sie nicht in allerletzter Minute festgehalten hätte, wäre sie ins Wasser gefallen und bestimmt jämmerlich ertrunken. Ich wünschte, das wäre mir passiert. Es muss so ein romantisches Gefühl sein, beinahe zu ertrinken! Und erst die Eiskrem! Mir fehlen die Worte, um diese Eiskrem zu beschreiben, Marilla. Ich schwöre dir, sie war einfach köstlich!«
Am Abend erzählte Marilla beim Strümpfestopfen ihrem Bruder, wie die ganze
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