Anne auf Green Gables
Geschichte ausgegangen war.
»Ich muss offen eingestehen, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagte sie nachdenklich. Dann schmunzelte sie. »Wenn ich an Annes >Geständnis< denke, muss ich lachen, obgleich es eine einzige faustdicke Lüge war! Eins ist sicher: Wo dieses Kind ist, wird es einem niemals langweilig werden.«
14 - Der Sturm im Wasserglas
»Was für ein herrlicher Tag!«, sagte Anne und atmete tief. »Ist es nicht wunderbar, an einem Tag wie diesem leben zu dürfen? Mir tun all die Leute Leid, die noch nicht geboren sind und ihn deshalb verpassen müssen. Natürlich werden auch sie schöne Tage erleben - diesen aber nie. Und was für einen prächtigen Schulweg wir haben!«
»Viel schöner als über die Landstraße, dort ist es so heiß und staubig«, antwortete Diana, während sie überlegte, wie viele Happen wohl für jeden übrig blieben, wenn man die drei Stück Himbeerkuchen, die ihre Mutter ihr mitgegeben hat, durch zehn teilte.
Die Schülerinnen von Avonlea pflegten ihre Pausenmahlzeiten nämlich immer zu teilen, und wenn man drei Stücke Himbeerkuchen ganz allein gegessen oder sie nur mit seiner besten Freundin geteilt hätte, wäre man für ewig als Geizhals abgestempelt worden.
Anne hatte bald für alle Stationen ihres Weges den passenden Namen gefunden. Jeden Morgen trafen sie sich in der >Liebeslaube<, einem verwunschenen Hohlweg, und gingen von dort aus weiter bis zum >Veilchental<, einer kleinen grünen Senke im Schatten der großen Bäume, die Mr Beils Felder begrenzten. Danach kam der >Birkenpfad<, eine kleine, gewundene Allee, die auf die Hauptstraße führte. Von dort aus bis zur Schule war es dann nur noch ein Katzensprung. Die Schule von Avonlea war ein weiß verputztes Gebäude mit flachem Dach und breiten Fenstern. Innen war sie mit stabilen, altmodischen Tischen mit aufklappbaren Schreibplatten ausgestattet, auf denen ganze Generationen von Schülern ihre Initialen und geheimen Mitteilungen hinterlassen hatten. Das Schulhaus lag etwas abseits der Straße. Dahinter floss ein kleiner Bach, in den die Kinder morgens ihre Milchflaschen stellten, damit sie bis zur Mittagspause kühl blieben. Marilla hatte Anne am ersten Tag nach den Ferien mit gemischten Gefühlen zur Schule geschickt. Wie würde Anne sich mit den anderen Kindern vertragen? Und würde sie es schaffen, eine ganze Unterrichtsstunde lang den Mund zu halten?
Doch es lief besser als befürchtet. Strahlendster Laune kam Anne von ihrem ersten Schulbesuch zurück.
»Ich glaube, die Schule hier wird mir gefallen«, verkündete sie. »Den Lehrer finde ich allerdings nicht gerade besonders. Er zwirbelt die ganze Zeit an seinem Schnurrbart herum und macht Prissy Andrews schöne Augen. Prissy ist nämlich schon fast erwachsen, sie ist sechzehn und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College in Charlottetown vor. Sie hat eine ganz helle Haut und braunes hochgestecktes Haar. Der Lehrer sitzt meistens bei ihr in der langen Bank ganz hinten - um ihr bei den Aufgaben zu helfen, sagt er. Aber Ruby Gillis hat gesehen, wie er etwas auf Prissys Tafel schrieb, und als sie es las, hat sie gekichert und ist rot geworden wie eine Tomate.«
»Anne Shirley, ich möchte nicht, dass du so von deinem Lehrer sprichst«, fiel ihr Marilla streng ins Wort. »Er ist dazu da, dir etwas beizubringen, und es ist deine Aufgabe, von ihm zu lernen. Solche Geschichten möchte ich nicht wieder hören, das sage ich dir gleich, ich hoffe, du hast dich anständig benommen.«
»Ja, Marilla«, antwortete Anne mit gutem Gewissen. »Das war allerdings auch nicht so schwer, wie du es dir vielleicht vorstellst. Ich sitze neben Diana. Unsere Bank steht direkt am Fenster und wir können zum >See der glitzernden Wasser< hinüberschauen. Die anderen Mädchen sind sehr nett und wir hatten in der Mittagspause sehr viel Spaß miteinander. Es ist schön, so viele Spielkameradinnen zu haben. Diana habe ich natürlich am liebsten. - Ich muss viel nachholen, glaube ich, die anderen sind schon im fünften Buch und ich bin erst im vierten. Dafür haben die anderen aber nicht so viel Phantasie wie ich, das hat sich schnell herausgestellt. Heute hatten wir Lesen, Erdkunde, Geschichte und Diktat. Mr Philipp meinte, meine Rechtschreibung sei eine Schande und er hat meine Tafel in die Höhe gehalten, damit alle sehen konnten, wie viele Fehler er angestrichen hatte. Das war mir schrecklich peinlich, Marilla. Zu einer Fremden hätte er wirklich etwas höflicher
Weitere Kostenlose Bücher