Anne auf Green Gables
passieren?«
»Ich habe sie gefärbt.« »Gefärbt? Anne Shirley, du hast deine Haare gefärbt? Das ist ja eine Sünde!«
»Ich wusste, dass man das eigentlich nicht tun soll«, gab Anne zu. »Aber ich dachte, eine kleine Sünde könnte ich ruhig in Kauf nehmen, um meine roten Haare loszuwerden. Und außerdem hatte ich mir fest vorgenommen, in anderen Dingen ganz besonders tugendhaft zu sein, um es wieder wettzumachen.«
»Also, wenn ich mich schon dazu entschlossen hätte, meine Haare zu färben, dann hätte ich wenigstens eine vernünftige Farbe gewählt -und nicht ausgerechnet Grün!«
»Aber ich wollte sie doch gar nicht grün färben, Marilla«, jammerte Anne. »Meine kleine Sünde sollte sich ja lohnen. Er hat gesagt, es würde ein herrliches Schwarz ergeben. Wieso sollte ich seine Worte anzweifeln? Ich weiß schließlich, wie das ist, wenn das, was man sagt, von anderen angezweifelt wird. Mrs Allan meint, wir sollten von einem anderen nichts Böses vermuten, bis wir einen sicheren Beweis für seine Bosheit haben. Jetzt habe ich den Beweis - aber vorhin habe ich ihm jedes Wort geglaubt.«
»Anne, von wem redest du überhaupt?«
»Na, von dem Hausierer, der heute Nachmittag da war. Ich habe das Zeug von ihm gekauft.«
»Anne Shirley, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst niemanden ins Haus lassen?!«
»Ich habe ihn ja auch gar nicht ins Haus gelassen. Ich bin hinausgegangen, habe die Tür hinter mir geschlossen und habe mir erst dann seine Ware angeschaut. Er erzählte mir von seiner Frau und den vielen Kindern, die er ernähren müsse. Da hatte ich Mitleid mit ihm und wollte ihm etwas abkaufen. Der Hausierer meinte, er hätte da ein Mittel, mit dem ich meine Haare tiefschwarz färben könnte. Die Farbe sei so haltbar, dass sie sich nicht auswaschen würde. Die Versuchung war einfach unwiderstehlich, Marilla! Allerdings sollte die Flasche fünfundsiebzig Cent kosten, ich hatte aber nur noch fünfzig. Ich hielt ihn für besonders gutherzig, weil er sagte, er würde sie mir für fünfzig lassen und das wäre fast geschenkt. Also habe ich sie gekauft, und sobald er verschwunden war, bin ich in mein Zimmer gegangen und habe den ganzen Inhalt der Flasche auf meinem Haar verteilt. Ich habe eine alte Haarbürste benutzt, genau wie es auf der Gebrauchsanweisung steht . . . Ach, Marilla, als ich das Ergebnis sah, habe ich meine kleine Sünde bitterlich bereut, das kannst du mir glauben. Hätte ich bloß die Finger davon gelassen.«
»Nun, ich hoffe, du lässt es dir eine Lehre sein«, sagte Marilla ernst. »Jetzt siehst du, wohin dich deine Eitelkeit gebracht hat. Am besten versuchen wir erst einmal, deine Haare gründlich zu waschen. Vielleicht geht die Farbe dann wieder raus.«
Doch in einem Punkt wenigstens hatte der Hausierer die Wahrheit gesagt: So gründlich Anne auch die Haare mit Seife und Wasser bearbeitete, die grüne Farbe ließ sich einfach nicht herauswaschen.
»Oh, Marilla, was soll ich nur tun?«, schluchzte Anne verzweifelt. »Ich bin das unglücklichste Mädchen von ganz Prince Edward Island!«
Es folgte eine traurige Woche, in der Anne das Haus nicht verließ und täglich ihre Haare wusch. Diana war die Einzige, die von ihrem traurigen Unglück erfahren durfte. Sie musste aber hoch und heilig versprechen, niemandem davon zu erzählen, und da sie eine treue Freundin war, hielt sie ihr Wort.
Am Ende der Woche sagte Marilla: »Es hat keinen Zweck, Anne. Wenn es jemals ein haltbares Färbemittel gegeben hat, dann das, was du diesem Hausierer abgekauft hast. Wir müssen deine Haare abschneiden, ich sehe keinen anderen Ausweg. So kannst du dich jedenfalls nirgends zeigen.«
Annes Lippen zitterten, aber sie wusste, dass Marilla die Wahrheit gesagt hatte. Mit einem schmerzlichen Seufzer ging sie die Schere holen. »Bitte, Marilla, schneid schnell alles auf einmal ab. - Mein armes Herz ist gebrochen! Und dabei ist es ein so unromantisches Leid. Im Roman verlieren manche Mädchen ihre Haare durch eine schwere Krankheit oder sie verkaufen sie für einen guten Zweck. Es hätte mir nur halb so viel ausgemacht, meine Haare auf diese Weise zu verlieren. Aber dass sie einem abgeschnitten werden müssen, weil man sie gefärbt hat, ist einfach ernüchternd. Ich glaube, ich werde die ganze Zeit über weinen, während du schneidest. Ich hoffe, es stört dich nicht. Ach, was für ein tragischer Augenblick!«
Dicke Tränen rollten über Annes Gesicht. Als sie später in ihr Zimmer ging, drehte sie stumm
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