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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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den Boden des Kahns, streckte sich dann darauf aus, schloss die Augen und faltete die Hände über der Brust.
    »Oh, Gott! Sie sieht wirklich aus wie tot«, flüsterte Ruby Gillis. »Ich habe Angst! Meint ihr wirklich, dass das richtig ist, was wir machen? Mrs Lynde sagt, Theaterspielen sei eine Sünde.«
    »Sei still, Ruby, und fang jetzt nicht mit Mrs Lynde an«, schimpfte Anne. »Du verdirbst die ganze Wirkung! Außerdem liegt das Hunderte von Jahren zurück, da war Mrs Lynde noch gar nicht geboren. Jane, sorg du für alles Weitere. Es geht doch nicht an, dass Elaine noch sprechen muss, obgleich sie schon längst tot ist.«
    Jane folgte Annes Weisung, in Ermangelung eines goldenen Tuches wurde Anne mit einer alten Klavierdecke zugedeckt; eine große blaue Iris in Annes gefalteten Händen ersetzte die weiße Lilie.
    »So, alles ist fertig«, sagte Jane. »Jetzt müssen wir ihre kalte Stirn küssen. Diana, du musst sagen: >Lebewohl für immer, Schwester<, und du, Ruby: >Lebewohl, teure Schwester< - und zwar so traurig wie möglich. Anne, du meine Güte, so lächle doch ein bisschen! Es heißt doch: >Elaine lag da, als würde sie lächeln.< So ist es schon besser. Lass uns jetzt den Kahn abstoßen.«
    Der Kahn wurde in den Weiher geschoben und stieß dabei unter Wasser gegen eine alte, scharfe Stange. Diana, Jane und Ruby warteten so lange, bis er in der Mitte des Sees war, und liefen dann hastig in den Wald, um rechtzeitig die Stelle am Ufer zu erreichen, wo sie als Lancelot, Guinevere und König Artus die sterblichen Überreste der Lilienmaid in Empfang nehmen sollten.
    Ein paar Minuten lang trieb Anne langsam auf dem Wasser und genoss die romantische Situation aus tiefstem Herzen. Doch plötzlich geschah etwas äußerst Unromantisches: Der Kahn begann zu lecken. Elaine musste zum Leben erwachen, ihre Kleider, ihre goldene Decke und ihr schwarzes Leichentuch zusammenraffen und auf einen Ausweg sinnen. Die Stange unter dem Wasser hatte den alten Kahn beim Anstoßen leck geschlagen. Immer höher stieg das Wasser - nicht mehr lange und der Kahn würde untergehen. Die Ruder hatten die Mädchen natürlich am Ufer zurückgelassen.
    Anne gab einen kurzen, hellen Schrei von sich - niemand konnte sie hören. Nun war sie tatsächlich totenblass geworden, doch sie verlor nicht die Selbstbeherrschung. Es gab noch eine Chance - eine einzige Chance.
    »Ich hatte furchtbare Angst«, erzählte sie Mrs Allan am nächsten Tag. »Der Kahn schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis er die alte Holzbrücke erreichte. Ich betete, aber ich behielt dabei meine Augen offen, denn ich wusste: Wenn Gott mich retten wollte, würde er den Kahn nahe genug an einem der Brückenpfeiler entlangtreiben lassen, sodass ich mich an ihm festklammern konnte. Sie wissen ja, die Pfeiler bestehen aus alten Baumstämmen, an denen man sich gut festhalten kann. Also betete ich und passte gleichzeitig auf, um meine Chance nicht zu versäumen. Ich sagte nur: >Bitte, bitte, lieber Gott, lass den Kahn dicht an einem Pfeiler vorantreiben. Den Rest schaffe ich dann schon!< Das sagte ich immer wieder - unter solchen Umständen denkt man nicht lange nach, um irgendein blumiges Gebet zu erfinden. Meine Bitte wurde jedenfalls erhört, denn der Kahn schwamm haarscharf an einem Pfeiler vorbei. Ich schlang den Schal und das Tuch über meine Schultern und klammerte mich an dem dicken Baumstumpf fest. Da hing ich nun und wusste nicht weiter. Es war eine äußerst unromantische Situation, aber daran habe ich in dem Moment gar nicht gedacht. Wenn man gerade dem sicheren Grab in sprudelnden Tiefen entgangen ist, macht man sich keine großen Gedanken über Romantik. Ich sprach ein kurzes Dankesgebet und richtete dann meine ganze Aufmerksamkeit darauf, mich ordentlich festzuhalten. Mir war klar, dass ich auf Hilfe angewiesen war, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien.«
    Der Kahn driftete unter der Brücke hindurch und sank dann recht schnell in der Mitte des Sees. Ruby.Jane und Diana, die etwas weiter unten am Ufer warteten, sahen ihn vor ihren Augen im Wasser versinken. Einen Moment lang standen sie da wie gelähmt. Dann schrien sie entsetzt auf und rannten so schnell sie konnten durch den Wald auf die Hauptstraße. Anne hörte ihre Stimmen und hoffte auf schnelle Hilfe.
    Die nun folgenden Minuten zogen sich für die unglückliche Lilienmaid wie Stunden in die Länge. Warum kam niemand, um sie zu retten? Wohin waren die Mädchen bloß gelaufen? Hoffentlich waren sie nicht

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