Anne auf Green Gables
behaglich knisterndes Holzfeuer und einen gedeckten Tisch vorzufinden. Nur ungern dachte sie an die Zeit zurück, als Anne noch nicht auf Green Gables war und ein kaltes und ungemütliches Haus nach solchen Versammlungen auf sie gewartet hatte.
Umso mehr war Marilla enttäuscht, als sie das Haus leer vorfand. Von Anne war keine Spur zu sehen. Dabei hatte sie dem Mädchen eigens eingeschärft, den Tisch um fünf Uhr zu decken. Jetzt musste sie sich beeilen, das Essen selbst vorzubereiten, bevor Matthew vom Pflügen nach Hause kam.
»Dieser Miss Anne werde ich es schon zeigen, wenn sie nach Hause kommt«, murmelte Marilla vor sich hin, während sie das Anzündholz mit mehr Kraft zerbrach, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Matthew war inzwischen hereingekommen und hatte sich geduldig in die Ecke gesetzt, um auf sein Essen zu warten. »Wahrscheinlich streift sie wieder irgendwo draußen mit Diana herum, anstatt an ihre Pflichten zu denken und pünktlich nach Hause zu kommen. Ich muss andere Saiten aufziehen mit dem Kind. Mrs Allan mag ja Recht haben, wenn sie sagt, Anne sei das gescheiteste Mädchen, das sie je gesehen habe. Aber manchmal hat sie nichts als Flausen im Kopf und der Himmel weiß, was ihr als Nächstes wieder einfallen wird. — Ach, ich rede ja schon wie Rachel Lynde und die findet selbst am Erzengel Gabriel noch schlechte Seiten. Aber dass sie nicht hier ist, obgleich ich es ihr ausdrücklich gesagt habe - das verstehe ich wirklich nicht. Unzuverlässig und ungehorsam ist sie eigentlich bisher noch nicht gewesen. Was soll man nun davon halten?«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Matthew, der weise genug gewesen war, Marilla nicht zu unterbrechen. Er war hungrig und wusste aus Erfahrung, dass sie mit ihrer Arbeit viel schneller vorankam, wenn man sie nicht mit Gegenargumenten aufhielt.
»Aber urteile nicht zu schnell, Marilla. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung - Anne ist ja wirklich ganz groß im Erklären.«
»Sie ist nicht hier, obwohl ich es ihr ausdrücklich gesagt habe«, wiederholte Marilla. »Ich denke, es wird ihr diesmal schwer fallen, eine Erklärung zu finden, die mich besänftigt. Ich weiß, Matthew, du wirst dich natürlich wieder auf ihre Seite schlagen. Aber ich erziehe das Mädchen, nicht du.«
Draußen wurde es schon dunkel und immer noch war Anne nicht aufgetaucht. Missmutig spülte Marilla das Geschirr und räumte es anschließend weg. Dann wollte sie in den Keller hinuntergehen. Weil aber nirgends ein Licht zu finden war, stieg sie in den Ostgiebel hinauf, um die Kerze zu holen, die auf Annes Tisch stand. Als sie die Kerze entzündet hatte, sah sie Anne zu ihrem großen Erstaunen auf ihrem Bett liegen. Das Gesicht hatte sie in den Kissen vergraben.
»Du liebes bisschen, Anne!«, sagte Marilla überrascht. »Hast du geschlafen?«
»Nein«, war die kurze Antwort.
»Bist du krank?«, fragte Marilla besorgt und ging zu Annes Bett hinüber.
Doch Anne vergrub sich nur noch tiefer in ihren Kissen, als wollte sie sich vor aller Welt verstecken.
»Nein, ich bin nicht krank. Aber bitte, Marilla, geh weg und schau mich nicht an. Ich bin am Rande der Verzweiflung. Mir ist alles egal: wer Klassenbester wird oder wer die besten Aufsätze schreibt oder gut in Geometrie ist - alles! Das sind jetzt nur noch lächerliche Kleinigkeiten. Ich werde mich nirgends mehr blicken lassen können. Ich bin am Ende! Bitte, Marilla, geh weg und schau mich nicht an!«
»Hat man jemals so etwas gehört?« Marilla war völlig verwirrt. »Anne Shirley, was ist los mit dir? Was hast du getan? Steh jetzt sofort auf und schau mich an. Sofort, habe ich gesagt. Also, was ist los?«
»Meine Haare, Marilla«, flüsterte sie.
Langsam hob Marilla ihre Kerze hoch und warf einen prüfenden Blick auf Annes Haare, die wirr um ihr Gesicht standen.
»Anne Shirley, was hast du mit deinen Haaren gemacht? Sie sind ja ... grün!«
Grün war die richtige Bezeichnung, falls es für Annes neue Haarfarbe überhaupt ein passendes Wort auf dieser Welt gab. In das schmutzige, dumpfe Dunkelgrün hatten sich einige Strähnen von Annes ursprünglicher Haarfarbe vermischt, was den Anblick nur noch schrecklicher machte. Noch nie in ihrem Leben haue Marilla so etwas Grausliches gesehen.
»Ja, sie sind grün«, bestätigte Anne traurig. »Und ich habe immer gedacht, nichts sei so schlimm wie rote Haare! Oh, Marilla, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie zerknirscht ich bin.«
»Aber wie konnte das denn
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