Anne auf Green Gables
den Spiegel zur Wand.
Am folgenden Montag waren Annes kurze Haare natürlich die Sensation in der Schule. Sehr zu Annes Erleichterung schien niemand den wahren Grund für ihre ungewöhnliche Frisur erraten zu haben -noch nicht einmal Josie Pye, die es sich nicht nehmen ließ, Anne daraufhinzuweisen, dass sie wie eine Vogelscheuche aussähe.
»Ich habe gar nichts darauf gesagt«, vertraute Anne am Abend Marilla an, die Kopfschmerzen hatte und erschöpft auf dem Sofa lag. »Vielleicht ist ihr Spott ein Teil meiner gerechten Strafe. Es ist nicht leicht zu ertragen, wenn jemand zu einem sagt, man sähe aus wie eine Vogelscheuche. Aber ich habe ihr nur einen zornigen Blick zugeworfen - und dann habe ich ihr verziehen. Man fühlt sich so edel, wenn man jemandem verzeiht, findest du nicht auch? Ich will jetzt meine ganze Kraft darauf richten, Gutes zu tun, und ich will nie mehr versuchen schöner zu sein, als ich bin. Natürlich ist es viel besser, gut zu sein als schön, das weiß ich ganz genau. Manchmal ist es bloß so schwer, etwas zu glauben, selbst wenn man es ganz genau weiß. Ich will wirklich gut sein - so wie du und Mrs Allan und Miss Stacy. - Rede ich dir auch nicht zu viel, Marilla? Tut dein Kopf noch sehr weh?«
»Es ist schon ein bisschen besser. Am Nachmittag waren die Schmerzen wirklich furchtbar. Irgendwie wird es immer schlimmer mit diesen Kopfschmerzen. Ich muss wohl mal zum Doktor gehen. Und was dein Geplauder angeht - daran habe ich mich schon längst gewöhnt.«
Das war Marillas Art zu sagen, dass sie es gern hatte.
24 - Anne, die Lilienmaid
»Natürlich musst du die Elaine spielen, Anne«, sagte Diana. »Ich hätte nie den Mut dazu, mich auf dem Wasser treiben zu lassen.«
»Und ich erst recht nicht«, meinte Ruby Gillis zitternd. »Ich habe nichts dagegen, wenn wir zu zweit oder zu dritt im Boot sitzen und uns treiben lassen, dann macht es Spaß. Aber daliegen und so zu tun, als wäre ich tot - das könnte ich einfach nicht über mich bringen. Ich würde vor Angst tatsächlich sterben.«
»Natürlich wäre es sehr romantisch«, räumte Jane Andrews ein, »aber ich könnte es auch nicht. Ich würde mich immerzu aufsetzen und schauen, ob ich auch nicht zu weit forttreibe - und das würde alles kaputtmachen, nicht wahr, Anne?«
»Aber eine Elaine mit roten Haaren, das sieht doch lächerlich aus!«, murrte Anne. »Ich habe keine Angst und würde von Herzen gerne die Elaine spielen, die Lilienmaid, sie hat helle Haut und herrlich lange blonde Haare. Erinnert euch doch: >Elaines gold glänzendes Haar fiel üppig auf ihre Schultern< Ein rothaariges Mädchen kann unmöglich die Lilienmaid sein.«
»Dein Teint ist fast so hell wie der von Ruby«, erwiderte Diana. »Außerdem wirkt dein Haar so viel dunkler, seitdem du es abgeschnitten hast.«
»Oh, findest du wirklich?«, rief Anne und wurde vor Freude ganz rot. »Ich habe das selbst auch schon manchmal gedacht, aber ich habe mich nie getraut, jemanden danach zu fragen. Meinst du, man könnte es jetzt kastanienbraun nennen, Diana?«
»Ja, es ist jetzt wirklich schön«, sagte Diana und bewunderte die kurzen, seidigen Locken, die Annes Gesicht umrahmten.
Es war Annes Idee gewesen, ein Gedicht von Tennyson in Szene zu setzen. Sie hatten es im vorigen Winter in der Schule gelesen und so ausführlich besprochen, dass ihnen Lancelot, Guinevere und König Artus mit der Zeit richtig vertraut waren. Wie oft hatte Anne seitdem heimlich bedauert, nicht auf Camelot geboren worden zu sein. Damals war das Leben bestimmt viel romantischer.
Annes Idee war von den anderen Mädchen mit Begeisterung aufgenommen worden. Die Mädchen hatten herausgefunden, dass ein Kahn, den man bei der Landestelle von Orchard Slope ins Wasser ließ, auf den See hinaustrieb, unter der Holzbrücke hindurchschwamm und an einer bestimmten Stelle hinter der nächsten Biegung des Sees wieder an Land stieß. Diese Strecke schien für Elaine, die Lilienmaid, wie geschaffen zu sein.
»Gut, ich werde Elaine spielen«, willigte Anne schließlich ein. »Ruby, du bist König Artus, Jane ist Guinevere und Diana ist Lancelot. Zuerst müsst ihr allerdings noch die Brüder und Väter spielen. Auf den stummen alten Diener, der die Leiche begleitet, müssen wir verzichten, im Boot ist einfach kein Platz mehr. Wir brauchen allerdings noch ein Leichentuch aus schwarzer Seide für die Barke. Das könnte der alte Schal deiner Mutter sein, Diana.«
Eilig wurde der Schal herbeigeholt, Anne legte ihn auf
Weitere Kostenlose Bücher