Anne auf Green Gables
alle auf einmal in Ohnmacht gefallen! Wer würde sie dann hier herausholen? Und wenn sie mit der Zeit so müde würde, dass sie sich nicht mehr festhalten könnte? Anne schaute unter sich in die grüne Tiefe. Ihre Phantasie malte sich Schreckliches aus.
Und dann - gerade als sie dachte, sie könnte den Schmerz in den Armen und Handgelenken keinen Moment länger ertragen - kam Gilbert Blythe in Harmon Andrews’ Ruderboot geradewegs auf sie zugerudert!
»Anne Shirley! Was um alles in der Welt machst du denn da?«, rief er. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er dicht an den Brückenpfeiler heran und streckte Anne seine Hand entgegen. Es gab keinen Ausweg: Anne musste Gilbert Blythes Hand nehmen und sich von ihm in das Boot ziehen lassen. Wütend und trotzig, den triefnassen Schal und das Klaviertuch noch im Arm, setzte sie sich erhobenen Hauptes ins Heck des Bootes. In einer solchen Situation war es äußerst schwierig, die Würde zu wahren.
»Was ist geschehen, Anne?«, fragte Gilbert und griff nach den beiden Rudern.
»Wir haben Elaine gespielt«, erklärte Anne widerwillig, ohne ihren Retter auch nur anzuschauen. »Ich musste mich in einer Barke nach Camelot treiben lassen. Aber der Kahn lief plötzlich voll Wasser, der Pfeiler war meine letzte Hoffnung. Und nun sei bitte so freundlich und rudere mich ans Ufer.«
Gilbert war so freundlich. Anne übersah seine Hand, die er ihr hilfreich entgegenstreckte, und sprang schnell an Land.
»Ich bin dir sehr dankbar«, sagte sie kühl und wollte gehen.
Doch Gilbert war ebenfalls aus dem Boot gesprungen und hielt sie sanft am Arm fest. »Anne«, sagte er hastig, »hör zu. Wollen wir uns nicht versöhnen? Es tut mir schrecklich Leid, dass ich mich damals über deine Haare lustig gemacht habe. Ich wollte dich nicht kränken, es sollte nur ein Spaß sein. Außerdem ist es doch schon so lange her. Ich finde deine Haare jetzt sehr hübsch, ehrlich. Lass uns doch Freunde sein!«
Einen Moment lang zögerte Anne. Trotz ihres verletzten Stolzes verspürte sie ein neues, seltsames Gefühl, wenn sie in Gilberts braune Augen sah. Ihr Herz schlug heftig. Doch ihr alter Groll gewann rasch wieder die Oberhand. Alles trat ihr lebendig vor Augen: Gilbert hatte sie »Karotte« genannt und vor der ganzen Schule lächerlich gemacht. Sie hasste Gilbert Blythe! Und sie würde ihm nie verzeihen!
»Nein«, sagte sie ungerührt. »Wir werden nie Freunde sein, Gilbert Blythe.«
»Wie du willst!« Zornig sprang Gilbert zurück in seinen Kahn. »Dann werde ich dich auch nie wieder darum bitten, Anne Shirley.«
Mit schnellen, heftigen Schlägen ruderte er auf die Mitte des Sees zurück. Anne stieg den steilen, von Farnkraut überwucherten Uferpfad hinauf. Sie hielt ihren Kopf hoch erhoben, doch innerlich spürte sie ein Gefühl von Reue. Fast wünschte sie sich, sie hätte Gilbert eine andere Antwort gegeben. Natürlich hatte er sie damals tödlich beleidigt, aber... Sie fühlte sich müde und erschöpft. Am liebsten hätte sie sich jetzt einfach hinfallen lassen und ein paar Tränen vergossen. Auf halber Strecke nach Orchard Slope kamen ihr Jane und Diana entgegen. Die beiden waren völlig aufgelöst. Auf Orchard Slope hatten sie niemanden angetroffen. Mr und Mrs Barry waren beide ausgegangen. Dort hatten sie die weinende Ruby Gillis zurückgelassen und waren nach Green Gables hinübergelaufen, wo ebenfalls niemand zu Hause war.
»Oh, Anne!«, Diana fiel ihrer Freundin um den Hals und fing vor Erleichterung und Freude an zu schluchzen. »Oh, Anne ... wir dachten, du wärst . . . ertrunken . . . und wir fühlten uns wie Mörder, weil... wir unbedingt wollten, dass du die Elaine spielst. Und Ruby ist völlig außer sich ... oh, Anne, wie hast du es nur geschafft?«
»Ich habe mich an einem der Brückenpfeiler festgehalten«, erklärte Anne matt. »Gilbert Blythe ist im Boot von Mr Andrews herbeigekommen und hat mich ans Ufer gerudert.«
»Oh, das war aber nett von ihm! Und wie romantisch!«, schwärmte Jane. »Jetzt wirst du bestimmt auch wieder mit ihm sprechen.«
»Das werde ich nicht!«, versetzte Anne. »Und das Wort >romantisch< möchte ich in diesem Zusammenhang nicht hören. - Es tut mir so Leid, dass ich euch geängstigt habe. Es war alles meine Schuld. Ich scheine vom Pech verfolgt zu sein. Alles, was ich tue, bringt mich oder meine Lieben in Gefahr. Wir haben den Kahn deines Vaters kaputtgemacht, Diana, und ich habe so eine gewisse Vorahnung, dass man uns in Zukunft verbieten
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