Anne auf Green Gables
wird, auf dem See zu rudern.«
Annes Vorahnung erwies sich als zuverlässiger, als Vorahnungen sonst zu sein pflegen. Die Bestürzung bei den Barrys und Cuthberts war groß, als sie von den Ereignissen des Nachmittags erfuhren. »Wirst du nie Vernunft annehmen, Anne?«, grollte Marilla.
»Oh, doch, Marilla, eines Tages schon«, antwortete Anne zuversichtlich. »Ich glaube, meine Aussichten, vernünftig zu werden, sind besser als je zuvor.«
»Ach ja, und warum das?«, fragte Marilla.
»Nun«, erklärte Anne, »ich habe heute eine neue und wertvolle Lektion gelernt. Seitdem ich nach Green Gables gekommen bin, habe ich Fehler gemacht und jeder Fehler hat mich von einem Makel befreit. Die Schichttorte zum Beispiel hat mich von der Unachtsamkeit beim Kochen geheilt und meine grünen Haare haben mir meine Eitelkeit ausgetrieben. Und das Missgeschick von heute wird mich in Zukunft davon abhalten, allzu romantisch zu sein. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in Avonlea sowieso wenig Zweck hat. Damals auf Camelot war es bestimmt viel einfacher — und vor allem ungefährlicher. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du in dieser Hinsicht bei mir bald eine große Besserung beobachten wirst, Marilla.«
»Das hoffe ich sehr«, erwiderte Marilla nicht ohne Zweifel.
Als Marilla hinausgegangen war, legte Matthew, der die ganze Zeit über in seiner Ecke gesessen hatte, seine Hand auf Annes Schulter. »Gib nicht deine ganze Romantik auf, Anne«, flüsterte er, »ein bisschen davon ist ganz gut - nicht zu viel, natürlich. Aber ein wenig solltest du ruhig behalten, Anne.«
25 - Ein Meilenstein in Annes Leben
An einem lauen Spätsommerabend Anfang September holte Anne die Kühe von der Weide. Das warme Sonnenlicht durchflutete jede noch so kleine Lichtung zwischen den Bäumen und beschien den schmalen Weg nach Green Gables. Nur unter den hohen Ahornbäumen war es schon recht schattig. Durch die Wipfel der Tannen rauschte der Wind.
Verträumt folgte Anne den bedächtig heimwärts trottenden Kühen. Da sah sie Diana über das Feld der Barrys auf sich zulaufen. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, musste es irgendeine wichtige Neuigkeit geben, doch Anne ließ sich ihre Neugierde nicht anmerken.
»Ist das nicht ein traumhafter Abend, Diana?«, fragte sie ihre Freundin. »Ich bin froh, dass ich lebe! Morgens denke ich immer, der Tagesbeginn sei am schönsten, aber wenn es Abend wird, erscheint mir das plötzlich noch schöner.«
»Es ist ein sehr schöner Abend«, erwiderte Diana höflich, »aber ich muss dir unbedingt etwas erzählen, Anne. Dreimal darfst du raten, was!«
»Charlotte Gillis heiratet und Mrs Allan möchte, dass wir die Kirche schmücken?«
»Nein, so weit ist es zwischen Charlotte und ihrem Verehrer noch nicht.«
»Jane gibt eine Geburtstagsparty?«
Diana schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Augen funkelten.
»Ich habe keine Ahnung, was es sein könnte«, sagte Anne verzweifelt, »oder hat dich Moody Spurgeon MacPherson etwa gestern Abend nach der Kirche nach Hause begleitet?«
»Wo denkst du hin?«, rief Diana beleidigt. »Meinst du etwa, ich würde deshalb so aufgeregt sein? Ich wusste, dass du nie im Leben darauf kommen würdest. Pass auf: Mutter hat heute einen Brief von Tante Josephine bekommen; sie hat uns beide für nächsten Dienstag in die Stadt eingeladen und will uns auf den Jahrmarkt mitnehmen. Was sagst du nun?«
»Oh, Diana«, flüsterte Anne und stützte sich gegen einen der großen Ahornbäume, »ist das dein Ernst? Aber Marilla lässt mich womöglich gar nicht mitkommen! Sie wird sagen, dass sie nichts davon hält, kleine Mädchen auf alle möglichen Veranstaltungen mitzuschleppen. Jedenfalls hat sie das letzte Woche gesagt, als Jane mich eingeladen hat, mit den Andrews zum Konzert ins White Sands Hotel zu fahren. Das war eine herbe Enttäuschung für mich, Diana.«
»Ich habe schon eine Idee«, sagte Diana. »Wir werden meine Mutter bitten, Marilla um Erlaubnis zu fragen, dann wird es nicht ganz so schwierig sein. Ach, das wird wunderbar! Ich bin noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen. Es ist so ärgerlich, immer nur den anderen Mädchen zuhören zu müssen, wenn sie von ihren Ausflügen berichten. Jane und Ruby sind schon zweimal in der Stadt gewesen und dieses Jahr wollen sie wieder hin.«
»Am besten werde ich gar nicht mehr daran denken, bis ich weiß, ob ich fahren kann oder nicht«, sagte Anne entschlossen. »Noch eine Enttäuschung könnte ich nicht verkraften. Aber falls wir
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