Anne auf Green Gables
gehegt hatte, Marillas Einladung auszuschlagen.
Also setzten sich Mrs Rachel und Manila gemütlich in den Salon, während Anne den Tee aufgoss und selbst gebackene Kekse servierte, die hell und weich genug waren, um selbst vor Mrs Rachels gestrengen Augen bestens zu bestehen.
»Ich muss schon sagen, Anne hat sich zu einem sehr geschickten jungen Mädchen entwickelt«, gab Mrs Rachel zu, als Manila sie später noch bis zum Hohlweg begleitete. »Sie ist sicherlich eine große Hilfe für dich.«
»Ja, das stimmt«, sagte Marilla, »und sie ist sehr fleißig und zuverlässig geworden. Ich hatte schon Angst, sie würde diese Flausen nie loswerden, aber jetzt würde ich ihr in jeder Hinsicht vertrauen.«
»Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so mausern würde, als ich sie vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Mrs Rachel. »Liebe Güte! Ich werde nie vergessen, wie sie damals ihren Wutanfall bekam! An jenem Abend sagte ich zu Thomas: >Denk an meine Worte, Thomas. Marilla Cuthbert wird ihren Entschluss noch bitter bereuen.< Aber ich hatte Unrecht und ich bin froh darüber. Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, die ihre eigenen Fehler nicht eingestehen können nein, das war noch nie meine Art und ich danke dem Himmel dafür. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich Anne in Bausch und Bogen verurteilte. Allerdings war das auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was für eine seltsame, unberechenbare kleine Hexe sie war! Mit den normalen Methoden der Kindererziehung war ihr nicht beizukommen. Es ist unglaublich, wie sie sich in den letzten drei Jahren gemacht hat - besonders auch im Aussehen. Sie ist ein richtig hübsches Mädchen geworden, obgleich ich nicht sagen kann, dass blasse, großäugige Mädchen mein Typ Kind sind. Die brünetten, kräftigen Mädchen wie Diana Barry und Ruby Gillis gefallen mir besser. Aber es ist seltsam ... ich weiß nicht genau, wie das kommt, aber wenn Anne und sie zusammen sind, sehen die anderen beiden neben ihr gewöhnlich und irgendwie aufgedonnert aus. Sie ist wie eine kleine weiße Narzisse unter großen roten Pfingstrosen - jawohl!«
27 - Die Prüfung rückt näher
Anne genoss ihre Ferien in vollen Zügen. Sie und Diana waren fast die ganze Zeit draußen und schwelgten in all den Freuden, die die »Liebeslaube«, der »Nymphenteich«, »Willowmere« und der »See der glitzernden Wasser« zu bieten hatten. Manila hatte gegen Annes Zigeunerleben nichts einzuwenden und so verbrachte Anne die Sommermonate in völliger Freiheit und Ausgelassenheit. Sie ging spazieren, ruderte, suchte Beeren und träumte nach Herzenslust. Als der September kam, war sie frisch und ausgeruht und freute sich auf die Schule.
»Jetzt werde ich wieder voller Schwung an die Arbeit gehen«, erklärte sie, als sie ihre Bücher aus dem alten Koffer auf dem Dachboden holte. »Ach, ihr lieben alten Freunde! Wie freue ich mich, euch wiederzusehen -ja, selbst dich, du altes Geometriebuch. Es war ein herrlicher Sommer und jetzt kehre ich zurück >wie ein Mann, der Bäume ausreißen kann<, wie Mr Allan am Sonntag in der Kirche gesagt hat.
Hält Mr Allan nicht großartige Predigten? Wenn ich ein Mann wäre, würde ich auch Pfarrer werden. Dann könnte ich jeden Sonntag von der Kanzel predigen und die Herzen meiner Zuhörer rühren. - Warum können Frauen keine Pfarrer werden, Marilla? Ich habe Mrs Lynde danach gefragt. Sie war schockiert und meinte, das wäre ein Skandal. In den Staaten gäbe es vielleicht Frauen als Priester, in Kanada wäre es zum Glück jedoch noch nicht so weit gekommen. Das verstehe ich nicht! Ich glaube, Frauen wären hervorragende Pfarrer. Wenn es um ein kirchliches Fest geht oder wenn die Gemeinde einen Basar veranstaltet, sind es doch sowieso die Frauen, die die ganze Arbeit machen müssen. Ich bin sicher, dass Mrs Lynde mindestens genauso von der Kanzel donnern könnte wie Superintendent Bell.«
»Na, da magst du Recht haben«, stimmte Marilla ihr schmunzelnd zu. Als Miss Stacy am Ende der Ferien zurück nach Avonlea kam, fand sie eine wissbegierige und eifrige Schar von Schülern vor. Besonders die Kandidaten für das Queen’s College rüsteten sich zum Kampf, denn der Schicksalstag namens »Aufnahmeprüfung« rückte bedrohlich näher. Schon der Gedanke daran ließ den Schülern von Avonlea das Herz in die Hose sinken. Was, wenn sie es nicht schafften? Dieser Gedanke verfolgte Anne in allen wachen Stunden dieses Winters - die Sonntagnachmittage inbegriffen. Alle anderen Probleme
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