Anne auf Green Gables
habe, Marilla - besonders, als ich auch noch Josie Pye kichern hörte. Miss Stacy hat mir >Ben Hur< weggenommen, aber gesprochen hat sie mit mir erst nach der Schule. Sie meinte, ich hätte wertvolle Zeit verschwendet, in der ich lieber hätte lernen sollen, und außerdem hätte ich versucht, meine Lehrerin zu täuschen. Es war mir furchtbar unangenehm, Marilla, und ich habe Miss Stacy angeboten, dass ich zur Strafe >Ben Hur< eine Woche lang nicht aufschlagen würde - noch nicht einmal, um zu schauen, wie das Wagenrennen ausgeht. Aber Miss Stacy meinte, das sei nicht nötig und sie würde mir auch so verzeihen und mir vertrauen, dass ich es nicht wieder tun würde. Deshalb finde ich es eigentlich nicht besonders nett von ihr, dass sie zu dir gekommen ist, um dir alles zu erzählen.«
»Sie hat diese Geschichte mit keinem Wort erwähnt, Anne. Es ist nur dein schlechtes Gewissen, das dich quält«, entgegnete Marilla. »Sie ist wegen einer ganz anderen Angelegenheit gekommen. Es geht darum, dass sie für ihre besten Schüler eine Art Zusatzunterricht einführen möchte, um euch auf die Aufnahmeprüfung für das Queen’s College vorzubereiten. Sie wollte Matthew und mich fragen, ob wir damit einverstanden sind, dass du daran teilnimmst. Was meinst du dazu, Anne? Würdest du gerne aufs Queen’s College gehen und Lehrerin werden?«
»Oh, Marilla!« Anne stand auf und klatschte begeistert in die Hände. »Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang - oder wenigstens seit sechs Monaten. Damals haben Ruby und Jane nämlich davon erzählt, dass sie an der Aufnahmeprüfung teilnehmen wollen. Ich habe euch bloß nichts davon gesagt, weil ich dachte, es hätte sowieso keinen Zweck. Ich würde so gerne Lehrerin werden! Aber wird das nicht fürchterlich teuer sein? Mr Andrews sagt, es hätte ihn einhundertfünfzig Dollar gekostet, Prissy dort unterzubringen - und Prissy ist keine Niete in Geometrie.«
»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Als Matthew und ich uns entschlossen haben dich aufzunehmen, haben wir uns geschworen, dass du es gut bei uns haben und auch eine ordentliche Ausbildung bekommen sollst, ich finde, dass ein junges Mädchen in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernähren - ob es das später einmal braucht oder nicht. Solange Matthew und ich da sind, wirst du auf Green Gables immer ein Zuhause haben, aber wer weiß, was noch geschieht . . . Man muss auf alles vorbereitet sein. Wenn du willst, kannst du also an Miss Stacys Zusatzunterricht teilnehmen.«
»Oh, Marilla, ich danke dir!« Anne schlang beide Arme um Marilla und sah ihr ernst ins Gesicht. »Ich bin dir und Matthew sehr dankbar. Und ich werde fleißig sein und alles tun, was ich kann, um euch Ehre zu machen. Allerdings muss ich euch warnen: In Geometrie dürft ihr nicht allzu viel von mir erwarten. In allen anderen Fächern kann ich aber bestimmt gut mithalten.«
»Du wirst es schon schaffen. Miss Stacy sagt, du seist klug und eifrig bei der Sache.« Nicht um alles in der Welt hätte Marilla Anne preisgegeben, was Miss Stacy wirklich gesagt hatte - damit hätte sie ja nur Annes Eitelkeit geschmeichelt. »Du brauchst dich also nicht ganz und gar in deinen Büchern zu vergraben. Es gibt keine Eile, weil du dich sowieso erst in anderthalb Jahren für die Aufnahmeprüfung anmelden kannst. Doch Miss Stacy meint, es sei gut, beizeiten mit der Vorbereitung zu beginnen und die Grundlagen zu legen.«
»Das Lernen wird mir von nun an noch viel mehr Spaß machen, weil ich jetzt ein Ziel habe«, sagte Anne strahlend. »Mr Allan sagt, jeder von uns sollte seinem Leben ein Ziel geben und es dann unbeirrt verfolgen. Allerdings müsste man erst einmal sicher sein, dass das Ziel auch gut und würdig ist. Aber Lehrerin zu werden - das müsste eigentlich ein würdiges Ziel sein, meinst du nicht auch, Marilla? Lehrerin ist ein so nobler Beruf!«
Kurze Zeit später hatten die Kandidaten für das Queen’s College ihre erste Unterrichtsstunde. Die Gruppe bestand aus Gilbert Blythe, Anne Shirley, Ruby Gillis, Jane Andrews, Josie Pye, Charlie Sloane und Moody Spurgeon MacPherson. Diana Barry durfte nicht mit dabei sein, ihre Eltern waren dagegen. Darüber war Anne sehr traurig. Seit der Nacht, in der sie Minnie May das Leben gerettet hatte, waren Diana und Anne sich nicht mehr von der Seite gewichen. Als sie Diana zum ersten Mal nach dem normalen Unterricht allein durch den »Birkenpfad« und das »Veilchental« nach Hause gehen sah, war es Anne, als
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