Anne auf Green Gables
schienen dagegen zu verblassen. In ihren schlimmsten Alpträumen sah sie eine Liste der Prüflinge vor sich, auf der ganz oben Gilbert Blythes Name prangte, während ihr Name überhaupt nicht zu finden war. Trotz alledem war es ein fröhlicher, glücklicher Winter, der wie im Fluge vorbeizugehen schien. Eine ganz neue Welt von Gedanken und Gefühlen eröffnete sich Anne. Voller Ehrgeiz machte sie sich daran, die weiten Felder unerforschten Wissens für sich zu erobern.
Vieles von dem hatte sie Miss Stacys taktvoller, weitsichtiger Führung zu verdanken. Sie leitete ihre Schüler dazu an, sich ihr Wissen selbst zu erschließen und die alten, ausgetretenen Pfade hinter sich zu lassen. Mrs Lynde und die Mitglieder der Schulaufsichtsbehörde beobachteten misstrauisch all die Neuerungen, die sie in der Schule von Avonlea einführte.
ln ihrer freien Zeit war Anne in diesem Winter viel unterwegs. Marilla hatte es inzwischen aufgegeben, sich gegen Annes Teilnahme an Festen und Veranstaltungen in der Gegend zu sperren. Es gab Konzerte und Bälle in Hülle und Fülle und mehr als einmal verabredete sich Anne mit den anderen Mädchen zum Schlittenfahren oder Schlittschuhlaufen.
In der Zwischenzeit war Anne so mächtig in die Höhe geschossen, dass Marilla eines Tages erstaunt feststellte, dass das Mädchen ihr über den Kopf gewachsen war.
»Meine Güte, du bist groß geworden, Anne!«, sagte sie fast ungläubig und ließ ihren Worten einen tiefen Seufzer folgen. Das Kind, das sie so tief ins Herz geschlossen hatte, war auf seltsame Weise verschwunden. An seiner Stelle stand ein großes fünfzehnjähriges Mädchen mit nachdenklichen Augen und ernsten Gesichtszügen. Marilla liebte dieses Mädchen genauso, wie sie das Kind geliebt hatte, doch immer öfter überkam sie ein seltsames Gefühl wie bei einem bald bevorstehenden Verlust.
Als Anne und Diana eines Abends zu einem Bibelkurs gegangen waren, saß Marilla allein im winterlichen Dämmerlicht und weinte. Matthew, der etwas später mit einer Laterne ins Haus kam, sah sie so verwundert an, dass Marilla trotz ihrer Tränen lachen musste.
»Ich habe an Anne gedacht«, erklärte sie. »Sie ist so ein großes Mädchen geworden ... und wahrscheinlich wird sie im nächsten Winter schon nicht mehr bei uns sein. Ich werde sie schrecklich vermissen.«
»Sie kann uns besuchen kommen«, tröstete Matthew seine Schwester. Für ihn würde Anne immer das kleine, eifrige Mädchen bleiben, das er an jenem Juniabend vor vier Jahren vom Bahnhof in Bright River abgeholt hatte. »Bis dahin wird die neue Bahnlinie nach Carmody fertig sein.«
»Trotzdem wird es anders sein als jetzt, wo sie immer da ist«, seufzte Marilla traurig. Sie war entschlossen, ihren Kummer nach Herzenslust auszukosten und keinen Trost anzunehmen. »Naja . .. Männer können das eben nicht so verstehen.«
Es gab noch mehr Veränderungen an Anne, die Marilla ebenfalls nicht entgangen waren: Das Mädchen war merklich stiller geworden. Vielleicht dachte sie dafür umso mehr nach und es konnte sein, dass sie noch genauso viel träumte wie früher - aber sie sprach weniger darüber. Marilla fragte sie deshalb eines Tages: »Du redest nur noch halb so viel wie früher, Anne, und gebrauchst auch längst nicht mehr so viele große Worte. Was ist los mit dir?«
Anne errötete, legte ihr Buch zur Seite und sah verträumt zum Fenster hinaus, wo sich an den Bäumen schon die ersten Knospen zeigten.
»Ich weiß nicht... irgendwie möchte ich nicht mehr so viel reden. Ich will meine Gedanken lieber im Herzen bewahren, wie einen wertvollen Schatz. Das ist besser, als wenn andere über sie lachen oder sich wundern. Und große Worte möchte ich auch nicht mehr gebrauchen. Eigentlich ist das ja schade, wo ich jetzt endlich bald alt genug für große Worte bin. Es mag in mancher Hinsicht ganz schön sein, erwachsen zu werden, aber es ist längst nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, Marilla. Es gibt so viel zu lernen, so viel zu tun und zu bedenken, dass für große Worte gar keine Zeit mehr bleibt. Außerdem hat Miss Stacy mir gesagt, die einfachen Worte würden viel stärker wirken. Sie will, dass wir unsere Aufsätze so klar und knapp wie möglich schreiben. Am Anfang ist mir das fürchterlich schwer gefallen, aber jetzt gefällt mir dieser Stil auch besser.«
»Du hast nur noch zwei Monate bis zur Aufnahmeprüfung«, sagte Marilla. »Meinst du, du wirst es schaffen?«
Der Gedanke daran ließ Anne erschaudern.
»Ich weiß
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