Anne auf Green Gables
wieder gnadenlos vor den Kopf stieß.
Bei den täglichen Freuden und Pflichten verging der Winter schnell. Wie lauter goldene Perlen an einem langen Halsband erschienen Anne die prall gefüllten Tage, und ehe sie sich’s versehen hatte, kam auch schon der Frühling wieder und rings um Green Gables fing die Natur zu blühen an.
Zu dieser Zeit verlor selbst der interessanteste Unterricht seinen Reiz. Mit sehnsüchtigen Augen saßen die Schüler und Schülerinnen, die sich auf das College vorbereiteten, in ihrem Klassenzimmer und schauten aus dem Fenster, während die anderen Kinder schon draußen über die grünen Wiesen sprangen. Die lateinischen Verben und französischen Sätze hatten ihre Anziehungskraft verloren. Selbst Anne und Gilbert ließen in ihrem Lerneifer spürbar nach. Lehrerin und Schüler waren gleichermaßen froh, als das Schuljahr zu Ende war und die langen Sommerferien vor ihnen lagen.
»Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet«, sagte Miss Stacy am letzten Schultag, »und euch eine fröhliche, unbeschwerte Ferienzeit verdient. Ich hoffe, dass ihr in dieser Zeit für das nächste Schuljahr richtig Kraft schöpfen könnt. Dann wird es nämlich ernst: Das letzte Jahr vor der Aufnahmeprüfung beginnt.«
»Werden Sie nach den Ferien wieder kommen, Miss Stacy?«, fragte Josie Pye.
Diesmal waren ihre Mitschüler dankbar für Josies Neugierde, denn es hatte Gerüchte gegeben, dass Miss Stacy nicht als Lehrerin nach Avonlea zurückkehren würde, weil man ihr eine Stelle in ihrer Heimatstadt angeboten hatte. Gespannt hielten sie den Atem an.
»Ja, ich werde zurückkommen«, antwortete Miss Stacy. »Ich hatte zwar daran gedacht, an eine andere Schule zu gehen, aber dann habe ich mich doch dafür entschieden, in Avonlea zu bleiben. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe euch so ins Herz geschlossen, dass ich euch jetzt nicht im Stich lassen will. Ich werde euch bis zur Prüfung führen.«
»Hurra!«, rutschte es Moody Spurgeon heraus, der sich bisher selten eine Gefühlsregung hatte anmerken lassen. Gleich darauf wurde er knallrot und schaute beschämt vor sich hin.
»Ach, ich bin ja so froh!«, rief Anne mit glänzenden Augen. »Liebe Miss Stacy, es wäre zu schrecklich gewesen, wenn Sie nicht zurückgekommen wären. Ich glaube nicht, dass ich das überlebt hätte.« Am selben Abend noch verstaute Anne alle ihre Schulbücher in einem alten Koffer auf dem Dachboden, schloss ihn ab und versteckte den Schlüssel an einem sicheren Ort.
»Keine Angst, Marilla, ich werde sie nach den Ferien schon wieder herausholen. Aber diesen Sommer will ich nach Herzenslust genießen. Wahrscheinlich ist es der letzte Sommer, den ich noch als kleines Mädchen erleben werde. Mrs Lynde sagt, wenn ich weiter so in die Höhe schießen würde, müsste ich bald längere Kleider tragen! Und wenn ich längere Kleider trage, dann werde ich mich auch gleich viel erwachsener und ernster fühlen — das weiß ich jetzt schon. Ich fürchte, ich werde dann noch nicht einmal mehr an Feen glauben, Marilla. Deshalb bin ich fest entschlossen, es diesen Sommer noch einmal so richtig ausführlich zu tun. - Ach, es werden wunderbare Ferien sein! Ruby Gillis wird bald ihre Geburtstagsparty geben und nächsten Monat findet das Sonntagspicknick statt. Mr Barry will an einem Abend mit Diana und mir ins White Sands Hotel zum Essen ausgehen. Jane Andrews war letzten Sommer dort essen. Es muss ein wunderbares Erlebnis sein, all die elektrischen Lampen und die vornehmen Damen zu sehen. Jane meinte, sie würde noch auf ihrem Sterbebett daran denken.«
Am nächsten Tag kam Mrs Lynde nach Green Gables, um zu fragen, warum Manila beim letzten Mal nicht zur Versammlung des Frauenhilfswerks gekommen war. Wenn Manila dort nicht erschien, musste etwas nicht in Ordnung sein.
»Matthew hatte am Donnerstag wieder Flerzbeschwerden«, erklärte Manila, »und ich wollte ihn nicht alleine lassen. Es geht ihm jetzt schon wieder besser, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Der Doktor sagt, er müsse vorsichtig sein und dürfe sich nicht aufregen - als ob Matthew je in seinem Leben auf Aufregung aus war! Aber er hat auch gesagt, Matthew dürfe nicht mehr so hart arbeiten, und versuch du mal Matthew von der Arbeit abzuhalten - da könnte man ihm genauso gut das Atmen verbieten. Komm, setz dich doch, Rachel. Möchtest du nicht zum Tee bleiben?«
»Nun, da du mich so nötigst, kann ich wohl schlecht nein sagen«, antwortete Mrs Rachel, die freilich nie die geringste Absicht
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