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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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könne sie auf ihrem Platz nicht sitzen bleiben, sondern müsse aufspringen und ihrer Freundin hinterherlaufen. Schnell versteckte sie sich hinter der großen lateinischen Grammatik, damit niemand ihre Tränen sehen konnte. Um keinen Preis sollten Gilbert Blythe oder Josie Pye sie weinen sehen!
    »Ach, Marilla, ich meinte wirklich, >die Bitterkeit des Todes zu spüren<, wie Mr Allan am letzten Sonntag in seiner Predigt sagte«, erzählte sie Marilla am Abend. »Wie herrlich wäre es doch, wenn Diana sich auch auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten könnte. Aber auf dieser Welt kann man wohl nicht alles haben ... Ich glaube, der Zusatzunterricht wird mächtig interessant werden. Jane und Ruby wollen auch das Lehrerexamen machen. Ruby meint, sie wolle nach dem Examen nur ein oder zwei Jahre unterrichten und dann heiraten. Jane dagegen will sich ihr ganzes Leben lang der Schule widmen und unverheiratet bleiben. Als Lehrerin würde man wenigstens bezahlt, meinte sie, während ein Ehemann schon murrt, wenn die Frau ihren Anteil am Butter- und Eiergeld verlangt. Wahrscheinlich spricht Jane aus trauriger Erfahrung. Mrs Lynde sagt, ihr Vater sei ein schrecklicher alter Griesgram und geiziger als die Schotten. - Josie Pye will nur wegen der Bildung aufs College gehen. Sie habe es nicht nötig, später selbst Geld zu verdienen. Bei Waisenkindern, die auf die Nächstenliebe anderer angewiesen wären, sei das natürlich etwas anderes, meinte sie. Moody Spurgeon will Pfarrer werden. Ich hoffe, du denkst nicht schlecht von mir, wenn ich das sage, Marilla, aber wenn ich mir Moody Spurgeon als Pfarrer vorstelle, muss ich lachen. Er sieht aber auch zu komisch aus mit seinem runden Gesicht, seinen kleinen blauen Augen und den riesigen Segelohren. - Charlie Sloane will in die Politik gehen und Abgeordneter werden, aber Mrs Lynde sagt, das würde er nicht schaffen. Die Sloanes seien immer ehrliche Leute gewesen und heutzutage hätten in der Politik nur die größten Gauner eine Chance.«
    »Und was hat Gilbert Blythe vor?«, wollte Marilla wissen, der nicht entgangen war, dass Anne bei ihrer Aufzählung einen Namen ausgelassen hatte.
    »Ich habe keine Ahnung, welches Ziel Gilbert Blythe im Leben verfolgt - falls er überhaupt eins hat«, erwiderte Anne verächtlich. Zwischen Anne und Gilbert war mittlerweile eine offene Rivalität ausgebrochen. Früher war der Wettkampf eher nur von Annes Seite geführt worden, doch jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass auch Gilbert Blythe verbissen darum kämpfte, Klassenbester zu werden. Anne und Gilbert waren ebenbürtige Gegner. Die anderen Schüler erkannten die Überlegenheit der beiden an und dachten nicht im Traum daran, es mit ihnen aufzunehmen.
    Seit dem Tag, als Anne am See Gilberts Bitte, ihm doch zu verzeihen, abgelehnt hatte, tat Gilbert seinerseits nun ebenfalls so, als würde es ein Mädchen namens Anne in Avonlea überhaupt nicht geben. Er redete und lachte mit den anderen Mädchen, tauschte Bücher und Puzzles mit ihnen aus, besprach den Unterricht und seine Pläne mit ihnen und begleitete ab und zu eines von ihnen nach der Schule nach Hause. Nur Anne Shirley überging er einfach; er behandelte sie wie Luft. Anne merkte, dass es nicht angenehm war, wie Luft behandelt zu werden. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass es ihr vollkommen egal sei. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es ihr keineswegs egal war und dass sie - wenn sie noch einmal die Möglichkeit gehabt hätte - mit Gilbert Freundschaft geschlossen hätte. Ihr Groll gegen ihn war wie weggeblasen, wie sie sich eingestehen musste. Auch wenn sie sich noch so oft in Erinnerung rief, wie tief er sie gekränkt hatte - seit dem Tag am »See der glitzernden Wasser« konnte sie den alten Zorn nicht mehr heraufbeschwören. Nachträglich sah Anne ein, dass sie die alte Geschichte schon längst vergessen und vergeben hatte, ohne es zu merken. Doch nun war es zu spät.
    Wenn es sich schon nicht mehr ändern ließ, dann sollte wenigstens weder Gilbert noch sonst irgendjemand - ja, noch nicht einmal Diana - jemals erfahren, wie Leid es ihr tat. Sie beschloss ihre wahren Gefühle vor aller Welt zu verbergen, was ihr so gut gelang, dass Gilbert - dem Anne längst nicht so gleichgültig war, wie er vorgab - keinerlei Anzeichen dafür entdecken konnte. Seine Nichtbeachtung, die als bloße Rache gedacht war, schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sein einziger Trost bestand darin, dass Anne ihren Verehrer Charlie Sloane immer

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