Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
hoffte sie, auf welch merkwürdige Weise dieses Vergnügen auch zustande gekommen sein mochte. Sie für ihren Teil blieb mit so viel innerem Behagen zurück, wie sie sich vielleicht überhaupt noch erwarten durfte. Sie konnte sich sagen, daß sie dem Kind unentbehrlich war; was kümmerte es sie da, ob Frederick Wentworth nur eine halbe Meile entfernt saß und sich bei anderen beliebt machte!
Wie er wohl einem Zusammentreffen gegenüberstand? Vielleicht gleichgültig, wenn denn Gleichgültigkeit unter solchen Umständen möglich war. Entweder das, oder er wollte sie nicht wiedersehen. Hätte er Wert auf ein Wiedersehen gelegt, dann hätte er nicht bis jetzt damit warten müssen, dann hätte er das getan, was sie selbst, da war sie sicher, an seiner Statt schon vor langem getan hätte, gleich nachdem die Ereignisse ihm die Unabhängigkeit verschafft hatten, die als einziges noch gefehlt hatte.
Schwager und Schwester kehrten zurück, in höchstem Maße beflügelt von ihrer neuen Bekanntschaft und ihrem Besuch im allgemeinen. Es hatte Musik gegeben, Gesang, Plaudern, Gelächter, alles, was einen Abend annehmlich machte; Captain Wentworth war ganz reizend gewesen, ohne Scheu oder Vorbehalte, es war, als würden sie sich schon immer kennen, und gleich morgen früh würde er mit Charles auf die Jagdgehen. Er wurde zum Frühstück erwartet, nicht hier bei ihnen, obwohl das zunächst der Plan gewesen war; dann aber war er genötigt worden, doch lieber ins Gutshaus zu kommen, und er schien auch besorgt, er könnte Mrs. Charles Musgrove im Wege sein, des Kindes wegen, und ganz verstanden sie selbst nicht, wie alles zugegangen war, aber nun war vereinbart, daß Charles mit ihm bei seinem Vater frühstücken solle.
Anne verstand um so besser. Er wollte ihr nicht begegnen. Er hatte sich nach ihr erkundigt, erfuhr sie, so flüchtig, wie es einer flüchtigen früheren Bekanntschaft entsprach – die er offenbar in ähnlichem Umfang eingeräumt hatte wie sie, angetrieben womöglich von dem gleichen Wunsch, bei einem Zusammentreffen nicht vorgestellt werden zu müssen.
Der Tag im Cottage begann stets später als der im anderen Haus, und am nächsten Morgen klafften die Zeiten so weit auseinander, daß Mary und Anne sich eben erst zum Frühstück gesetzt hatten, als Charles hereinkam, um zu melden, daß sie gleich aufbrechen würden; daß er nur rasch seine Hunde holen wolle; daß ihm seine Schwestern in Begleitung von Captain Wentworth folgten, erstere, um Mary und den Buben zu besuchen, und letzterer, um Mary ebenfalls kurz seine Aufwartung zu machen, falls er nicht ungelegen käme; und obgleich Charles ihm versichert habe, daß der Zustand des Kindes eine solche Rücksicht keinesfalls erfordere, habe Captain Wentworth darauf bestanden, daß er vorausging und sie vorwarnte.
Mary, sehr befriedigt über so viel Ehrerbietung, war hocherfreut, ihn zu empfangen, während auf Anne tausend Gefühle zugleich einstürmten, deren tröstlichstes war, daß es schnell vorbei sein würde. Und es war schnell vorbei. Nur zwei Minuten nach Charles’ Ankündigung erschienen die anderen; man stand im Salon. Ihr Blick begegnete halb dem seinen; eine Verneigung, ein Knicks; sie hörte seine Stimme – er sprach mit Mary, sagte alles, was sich schickte; machte eine Bemerkung zu den Miss Musgroves, die auf einen unbeschwertenUmgang hindeutete; das Zimmer schien voll – voll von Menschen und Stimmen – doch nach wenigen Minuten war es ausgestanden. Charles tauchte am Fenster auf, es war soweit, ihr Besucher verbeugte sich und war fort, und fort waren auch die Miss Musgroves, die spontan beschlossen hatten, die Jäger bis zum Dorfausgang zu begleiten; das Zimmer lag wieder leer, und Anne durfte ihr Frühstück beenden, so gut sie es vermochte.
»Es ist vorbei! es ist vorbei!« sagte sie sich in nervöser Dankbarkeit ein ums andere Mal. »Das Schlimmste ist überstanden!«
Mary redete, aber sie konnte nicht zuhören. Sie hatte ihn gesehen. Sie waren sich begegnet. Sie hatten wieder im selben Zimmer gestanden!
Bald jedoch begann sie sich zur Vernunft zu mahnen, und sie schalt sich, daß sie so viel empfand. Acht Jahre, fast acht Jahre war es nun her, daß alles zu Ende gegangen war. Wie widersinnig, einen Gefühlsaufruhr neu zu beleben, den ein solcher Zeitraum in verschwommene Ferne verbannt hatte! Was konnten acht Jahre nicht alles bewirken? Ereignisse aller Art, Umbrüche, Entfremdungen, Ortswechsel – alles, alles mußte darin enthalten sein,
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