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Anne Frasier

Anne Frasier

Titel: Anne Frasier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marinchen
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konnte.

12
    Die Stadt der breiten Schultern. So hatte jemand namens Carl Sandburg Chicago genannt, zumindest hatte Ronny Ramirez das gehört.
    Es war zwei Uhr nachts, und Ronny Ramirez war unterwegs als Teil eines der schnellen Einsatzteams, die Bürgermeister Daley Ende der Neunziger eingeführt hatte. Ramirez liebte Chicago.
    Und er liebte seinen Job - meistens jedenfalls.
    Er war der Sohn von Einwanderern, Arbeitern, und hatte sein ganzes Leben in den Vereinigten Staaten verbracht. Vor seiner Geburt waren seine Eltern jeden Herbst aus Mexiko nach Missouri gepilgert, um Tomaten zu pflücken, später Birnen. Wenn die Saison vorüber war, kehrten sie zurück auf das kleine Fleckchen Land, das seinem Großvater gehörte, wo sie Gemüse anbauten und es in Mexico City verkauften. Aber als Ramirez' Mutter mit ihm schwanger wurde, entschieden sie sich, dort zu bleiben, wo sie kostenlos im Krankenhaus behandelt wurden, wenn sie nur erlaubten, dass Studenten sie zwei Wochen vor, während und nach der Geburt eingehend studierten. Zwölf Studenten wurden ausgewählt, um bei der Geburt dabei zu sein. Einer hatte den Dammschnitt durchgeführt, ein anderer die Nachgeburt aufgefangen.
    »Noch nie haben mir so viele Fremde zwischen die Beine geguckt, Baby«, hatte seine Mutter ihm berichtet. Aber die ganze entwürdigende Prozedur war es wert gewesen, denn ihr Sohn, Ronny Ramirez, wurde auf diese Weise als Bürger der Vereinigten Staaten geboren.
    Jetzt, wo einer von ihnen ein legaler Amerikaner war, blieb
    die Familie in einem kleinen Bauerndorf, wo die meisten Leute Tabak kauten, Trucks mit riesigen Reifen fuhren und redeten, als befänden sie sich unter Wasser. Dort wechselten Ronnys Eltern von der Feldarbeit zu Fabrikjobs, und bald konnten sie sich all die Sachen kaufen, ohne die sie in Mexiko gut gelebt hatten, von kleinen Geräten wie 35-Millimeter-Kameras und einem Videorekorder bis zu Großgeräten wie Waschmaschine und Trockner. Aber was viel wichtiger war: Ronny konnte eine amerikanische Ausbildung erhalten.
    In der Schule galt er als Kuriosum. Er war gut im Sport, also gehörte er zum inneren Zirkel, der ansonsten aus Kindern der Dorffamilien bestand.
    Ramirez hasste dieses Dorfleben. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass es irgendwo dort draußen einen besseren Ort geben musste.
    Es musste einen Ort geben, wo es nicht nur Maisfelder gab, so weit das Auge reichte.
    Seine mexikanischen Wurzeln waren ihm so fremd, wie sie den Kindern waren, mit denen er zur Schule ging, aber er hatte auch nie das Gefühl, in das Bauerndorf zu gehören, in dem er aufwuchs. Er war ein Mann ohne Heimat. Und dann entdeckte er Chicago. Die Stadt umarmte ihn, hieß ihn willkommen. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dazuzugehören. Er war noch nicht sicher, wozu - er war erst vier Jahre hier, aber das Gefühl war angenehm. Es war wie ein Zuhause.
    Das Funkgerät erwachte zum Leben, der Dispatcher informierte über einen zehn-eins - höchste Dringlichkeitsstufe. Dann folgte der Code für einen möglichen Mord und eine Adresse. »Alle nahen Einheiten bitte melden. «
    Ramirez' zögerliche Partnerin an diesem Abend, Regina Hastings, schaltete das Blaulicht ein, dann meldete sie dem Dispatcher, dass sie nur fünf Minuten entfernt waren. Ramirez trat aufs Gas, bis sie fast durch die verlassenen
    Straßen flogen. Hastings hielt sich an dem Griff über der Tür fest als er eine Ecke zu schnell nahm.
    »Ein bisschen langsamer, ja? Herrgott, Ramirez, warum hast du es so eilig?«
    Aber sie wusste, warum er es so eilig hatte. Ramirez wollte immer der erste Polizist am Tatort sein. Es war wie ein Wettbewerb für ihn.
    Ein Tatort konnte ganz am anderen Ende von Bereich Fünf liegen, und er raste los, als könnte nicht ermittelt werden, bis er sein Gesicht am Tatort gezeigt hatte.
    Er schaute zu ihr herüber und seine weißen Zähne blitzten in seinem dunklen, gut geschnittenen Gesicht. Er nahm die nächste Kurve kein bisschen langsamer.
    Reifen quietschten über trockenen Asphalt; einen Augenblick lang schien es, als würde der Streifenwagen hochkippen auf zwei Räder.
    Wichser, dachte sie. Er war einer von diesen Wichsern, die Polizist wurden, weil sie schnell fahren und eine Knarre tragen wollten, ganz zu schweigen davon, Leuten Angst einzujagen. Er hatte einen Ruf als Typ für eine Nacht. Aber man musste fairerweise sagen, dass sie parteiisch war. Sie war einmal mit Ramirez ausgegangen - ein Vorfall, den sie versuchte, aus

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