Anne Frasier
eingedrungen und hat gewartet.«
»Sich im Treppenhaus versteckt.«
»Ja.«
»Das scheint mir wahrscheinlicher. Wir müssen alle im Haus verhören.«
»Es gibt hundert Wohnungen im Gebäude.«
»Haben Sie eine bessere Idee?«
»Nein.«
Max zog sein Handy heraus und rief Ethan an. »Ich komme bis heute Abend nicht mehr nach Hause«, sagte er ihm.
»Was ist mit meinem Spiel?«
»Du hast ein Spiel? Wo?«
»Heimspiel. Im Cascade.« . »Fahr mit jemand mit. Ich versuche, hinzukommen, aber ich kann dir nichts versprechen.« Max wusste, dass er es wahrscheinlich nicht schaffen würde, aber zumindest wusste er jetzt, wo Ethan war.
»Was ist damit, meine richtigen Eltern zu finden? Du hast gesagt, du würdest mir dabei helfen.«
Der Junge brach ihm das Herz und wusste es nicht einmal. »Mach ich auch.«
»Wann?«
»Bald.« Max verabschiedete sich und legte auf, steckte das Telefon zurück in seine Tasche. »Sie hatten recht damit, dass Ethans Probleme mehr als nur Teenagersorgen sind«, sagte er zu Ivy.
»Sie haben mit ihm geredet?«
»Ja.« Max seufzte. »Er hat plötzlich entschieden, dass ich ihn nicht liebe, und will seine richtigen Eltern finden.« Er erklärte ihr ein wenig mehr, als er ihr schon über Cecilia berichtet hatte, und dass Ethan nicht nur einmal, sondern sogar zweimal adoptiert worden war.
»Wissen Sie etwas über seine tatsächlichen Eltern?«
»Nur, dass seine Mutter eine Freundin von Cecilia war, die ungewollt schwanger wurde. Über den Vater weiß ich nichts.«
»Sie müssen doch über bessere Kontakte verfügen als normale Sterbliche.«
»Und was ist, wenn seine biologische Mutter gar nichts mit Ethan zu tun haben will? Ich möchte nicht, dass er verletzt wird. Andererseits - und ich weiß, dass ich hier selbstsüchtig bin -, was ist, wenn sie ihn kennenlernen will?«
»Manche Kinder verspüren den überwältigenden Drang, zu erfahren, wo sie herkommen. Ich kann Ihre Bedenken verstehen, aber seine biologische Mutter wird Sie niemals ersetzen können. Sie sind sein Vater. Sie sind derjenige, der die ganzen Jahre für ihn da war. Sie sind seine Vergangenheit Sie sind seine Erinnerungen.«
»Was ist, wenn seine Mutter vergewaltigt wurde? Das passiert öfter als man denkt. Ich möchte nicht, dass Ethan so etwas herausfindet.«
Sie verschränkte die Arme. »Meine Großmutter hätte jetzt gesagt: Das Scheinwerferlicht schwenkt schon zu stark zur Seite.«
Er sah zu ihr auf, und sie konnte plötzlich erkennen, dass er sie an ihren Sohn erinnert hatte, ihren ermordeten Sohn. »Meine Güte, Ivy. Tut mir leid. Ich sollte darüber nicht mit Ihnen reden.«
»Schon in Ordnung.«
»Ich weiß gar nicht, was ich mir gedacht habe.«
»Begreifen Sie eigentlich, wie schön es ist, dass Sie von meinem Sohn wissen? Ich habe die letzten sechzehn Jahre damit
verbracht, Menschen über meine Vergangenheit zu belügen. Wissen Sie, wie wunderbar es ist, von Ethan zu hören und sagen zu können: Ich hatte auch einen Sohn? Und wenn er am Leben geblieben wäre, wäre er groß und stark geworden, mitfühlend und klug. Er hätte mich gebraucht, und er hätte mich zur Hölle gewünscht. Seit er gestorben ist, musste ich seine Existenz verbergen. Wenn Leute mich fragten, ob ich Kinder habe, konnte ich nicht sagen: Ich hatte einen Sohn. Ich musste >Nein< sagen. Das hat so wehgetan, jedes Mal >Nein< zu sagen. Und es hat eine Mauer errichtet zwischen mir und jedem einzelnen Menschen, den ich kennenlernte. Wenn ich jemanden mochte - ob Mann oder Frau -, wusste ich schon, dass sie nie mehr als lose Bekannte sein konnten, denn mein Geheimnis war zu groß. Es war zu sehr Teil all dessen, was ich bin, und ich wusste, sie würden niemals auch nur anfangen können, mich zu verstehen, ohne meine Vergangenheit zu kennen. Ich höre sehr gerne von Ethan. Denn wenn Sie mir von ihm erzählen, wenn Sie mir von den Schwierigkeiten des Elternseins erzählen, fühle ich mich dem Sohn näher, den ich verloren habe. Also hören Sie bitte niemals auf, von ihm zu erzählen.« Ihre Stimme brach, sie schwieg einen Moment, um sich zu sammeln. »Hören Sie nie auf, von ihm zu erzählen«, flüsterte sie.
Er stellte seinen Kaffee beiseite und stand auf. Sie dachte, er wollte gehen, als er sie in die Arme nahm und festhielt. Bloß hielt, hielt, hielt.
27
Darby Nichols schnürte ihre Laufschuhe zu und trat zur Tür hinaus. Sie ging gerne früh am Sonntagmorgen joggen, denn da waren alle anderen noch im Bett. Es war nicht viel Verkehr,
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