Anne Gracie
sie buchstäblich durch die Halle geschleift hast – plötzlich stehen
geblieben bist und sie wie ein halb verhungerter Kannibale angestarrt hast,
sodass es alle sehen konnten, und sie dann durch diese Hintertür außer Sicht
geschafft hast. Es ist schon erstaunlich, dass du nie daran gedacht hast,
Diplomat zu werden wie dein Bruder Nash.“
„Halbbruder“,
knurrte Harry. „Gut, vielleicht habe ich mich nicht ganz
so diskret verhalten, wie ich eigentlich vorhatte“, räumte er dann ein.
„Aber dieses Mädchen bringt mich ganz aus dem ...
Konzept.“ Das war kaum die richtige Bezeichnung, aber es gab einfach kein
Wort für das, was Nell Freymore in ihm auslöste. „Wirklich? Das wäre mir nie
aufgefallen“, behauptete seine Tante trocken.
Trotz
seiner Verzweiflung musste Harry grinsen.
„So ist es
schon viel besser“, lobte sie. „So, anstatt nun neben mir her zu stampfen wie
ein zorniger Bär, solltest du lieber mal genauer überlegen, was du eigentlich
von dieser jungen Frau willst und warum. Bist du sicher, dass du sie nicht nur
deshalb so hartnäckig umwirbst, weil sie dich zurückgewiesen hat? Ich nehme
an, so etwas ist dir bisher noch nicht allzu oft passiert.“
„Nur
einmal“, bestätigte Harry. „Sofern du von Heiratsanträgen sprichst.“
„Ach ja,
die Sache mit Lady Anthea.“
Harry
knirschte mit den Zähnen. „Nell ist ganz anders als sie.“
„Vom
Aussehen her bestimmt. Lady Anthea mag zwar in ihrem Herzen eine Hexe sein,
aber sie war und ist immer noch eine atemberaubende Schönheit. Während diese
junge Frau ein unscheinbares kleines Ding ist. Aber sie sieht süß aus, wenn
sie lächelt, und schöne Augen hat sie auch, da hast du recht. Meiner Meinung
nach könnte sie eine neue Garderobe gebrauchen.“
„Das alles
hat nichts mit Anthea zu tun“, gab er gereizt zurück. „Und Nell ist ganz
und gar nicht unscheinbar – das liegt nur, wie du richtig gesagt hast, an ihrer
Kleidung.“
„Wie
unterschiedlich Lady Helen und Lady Anthea sonst auch sein mögen, es bleibt die
Tatsache, dass beide einen Earl zum Vater haben“, bemerkte seine Tante,
unverblümt wie immer. „Nur, dass der Vater deiner jungen Dame nicht mehr lebt
und sie auch keine Brüder hat, die dich öffentlich auspeitschen könnten.“
Harry
presste die Lippen zusammen, als seine Tante ihn so schonungslos an die größte
Demütigung seines Lebens erinnerte.
Sie legte
ihm die Hand auf den Arm. „Ehe du dich zum Narren machst, Harry, solltest du
dir ganz sicher sein, dass dein Werben um Lady Helen nicht nur einem tief
verwurzelten Verlangen entspringt, dir selbst und aller Welt zu beweisen, dass
du die Tochter eines Earls heiraten kannst.“
Er sah sie
erschrocken an. „Nein, das ist es nicht!“, erwiderte er spontan, obwohl er
sich im Grunde nicht ganz sicher war. Nell hatte ihn das auch schon gefragt,
wenn auch nicht so direkt. Und er hatte es zugegeben – dass er sie als Ehefrau
so verlockend fand, lag zu einem kleinen Teil auch an ihrem Titel. Er hätte das
nur nie mit dem in
Verbindung gebracht, was Lady Gosforth „die Sache mit Lady Anthea“ nannte.
Sie hatten
das Haus seiner Tante erreicht. Harry half ihr aus der Sänfte und entlohnte die
Träger.
„Du bist
dir also sicher, dass du Lady Helen nicht ihres Titels wegen heiraten
willst?“, fragte sie ihn in der Eingangshalle.
„Mit dieser
Geschichte hat das nichts zu tun.“ Anthea war längst Vergangenheit.
„Dann bist
du in sie verliebt.“
„Verliebt?
Nein! Um Gottes willen.“ Wie kam sie nur auf so seltsame Ideen?
Tante Maude
blieb stehen und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
„Es wäre
einfach passend, das ist alles“, beharrte er.
„Es wäre passend,
eine mittellose junge Frau zu umwerben, deren Vater ihr nichts weiter
hinterlassen hat als den Skandal um seinen
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