Anne Gracie
es wohl im
Sonnenschein haben mochte. Feuchte Strähnen umrahmten das schmale Gesicht; sie
klebten an ihrer Stirn, den Schläfen und den Wangen.
Harry
verspürte das unwiderstehliche Bedürfnis, eine Strähne zurückzustreichen, die
ihr beinahe in die Augen hing und sich in ihren Wimpern zu verfangen drohte. Ob
die Strähne sich um seine Finger wickeln würde, wenn er das tat? Wie ein lebendes
Wesen?
Gott, die
junge Frau war wirklich vollkommen durchnässt. Sie hatte den Blick nicht
abgewandt und Harry wurde es plötzlich heiß. Um seine Verwirrung zu kaschieren,
hob er den Hut wie zum Gruß. Statt ihn wieder aufzusetzen, ertappte er sich jedoch
dabei, wie er den Arm ausstreckte und ihr seinen Hut sanft auf die nassen
Locken drückte.
Er saß so
tief, dass er den Großteil ihres Gesichts verdeckte. Sie sagte kein Wort, legte
nur den Kopf in den Nacken und sah Harry unter der Krempe hervor nachdenklich
an.
„Sie
sollten unter die Plane schlüpfen.“ Er nickte zu dem schweren Sackleinen,
das über die Ladung des Fuhrwerks gespannt war. Zwischen den Kisten würde es
eng und dunkel sein, und sie würde auch nicht nach draußen sehen können, aber
das war mit Sicherheit besser, als im strömenden Regen zu sitzen.
Sie folgte
seinem Blick und schüttelte leicht den Kopf. Harry konnte ihre Augen nicht mehr
richtig sehen, aber ihre Lippen bewegten sich und er betrachtete sie wie
gebannt. Wieder wurde ihm heiß.
Sabre
tänzelte unruhig unter dem ungewohnt festen Schenkeldruck seines Reiters, und
einen Moment lang war Harry damit beschäftigt, sein Pferd wieder unter
Kontrolle zu bringen – und dankbar für die Ablenkung. Er nutzte die
Gelegenheit, auch seine eigene Fassung wiederzugewinnen.
Er hätte
eigentlich weiterreiten sollen. Bestimmt wartete Ethan weiter vorn schon
ungeduldig auf ihn, außerdem wurde Harry zum Abendessen in Bath erwartet. Davon
abgesehen war diese Frau ein Milchmädchen oder eine Bedienstete. Das konnte zu
nichts führen und zudem traf Tante Maude bereits Vorkehrungen.
Aber
irgendwie ... Er verschlang sie förmlich mit den Blicken.
So hatte er
sich schon seit ... Jahren nicht mehr gefühlt.
Der Wald
lichtete sich. Harry sah nach vorn. Sie näherten sich einer Weggabelung. Die
eine Abzweigung führte nach Shaftesbury und weiter nach Bath, die andere,
schmalere bog nach rechts ab. Er würde es dem Schicksal überlassen, ob er die
Bekanntschaft mit dieser Frau vertiefen sollte oder nicht.
Schweigend
ritt er neben dem Gefährt her, bis sie die Gabelung erreichten. Das Fuhrwerk
bog nach rechts ab.
Dann soll
es wohl so sein, dachte Harry. Das Schicksal hatte gesprochen.
Er wollte
schon weiterreiten, aber sein Blick fiel auf die kleinen, vor Kälte geröteten
Hände, mit denen sie sich am Karren festhielt. Ohne nachzudenken, zog er seine
Lederhandschuhe aus und warf sie ihr in den Schoß.
Sie fing
sie auf und sah ihn fragend an.
„Ziehen Sie
sie an“, murmelte er. „Ihre Hände sehen eiskalt aus.“
Einen
Moment lang bewegte sie sich nicht, dann zog sie erst den einen, dann den
anderen Handschuh an. Es ging ganz leicht, weil sie ihr viel zu groß waren. Und
dann schob sie den Hut etwas nach hinten und schenkte Harry ein Lächeln.
Harry
starrte sie an, nickte ihr ruckartig zu und trieb sein Pferd Richtung Westen.
Erst viel
später fiel ihm auf, dass er gar nicht gehört hatte, wie sie
„danke“ gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, dass ihre Lippen
das Wort geformt hatten. Er hatte nur töricht genickt und war an dem sperrigen
Fuhrwerk vorbeigeritten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er konnte nichts
anderes um sich herum wahrnehmen als dieses Lächeln.
„Na, das
war ja mal etwas ganz Neues“, spottete Ethan, als Harry zu ihm aufschloss.
„Jetzt werden wohl Hüte
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