Anne Gracie
immer noch nackt, wie er stirnrunzelnd
feststellte. Ihre Zehen mussten eiskalt sein. Er hatte in der vergangenen Nacht
lange gebraucht, um sie zu wärmen. Wie kleine Eisklötze waren sie gewesen. Er
fühlte sich irgendwie verantwortlich für diese Zehen.
„Ach, wie
schön, du bist schon auf“, sagte sie. „In fünf Minuten bin ich fertig und
wir können aufbrechen.“
„Aufbrechen?“
„Um uns auf
die Suche nach Torie zu machen.“
„Dazu ist
es noch viel zu früh. Kein Leiter eines Waisenhauses wird schon auf den Beinen
sein, geschweige denn uns empfangen wollen.“
„Aber
...“
„Wir hatten
uns auf acht Uhr geeinigt, erinnerst du dich?“ Das war der späteste
Zeitpunkt, zu dem er sie hatte überreden können. Wären sie nicht im
Stockdunkeln in London angekommen, hätte sie sich wahrscheinlich gleich auf die
Suche gemacht.
Sie spielte
mit den Fransen ihres Schultertuchs. „Ich weiß, aber ich kann nicht schlafen.
Ich muss anfangen zu suchen.“
Er war
versucht ihr zu sagen, dass sie noch vor wenigen Minuten ganz ausgezeichnet
geschlafen hatte, doch ein Blick in ihr gequältes Gesicht genügte, und er hielt
den Mund. Das Problem war nicht, dass sie nicht schlafen konnte – sie konnte
nicht mehr warten.
„Ich habe
schon so viele Wochen verschwendet“, beharrte sie. „Doch nun bin ich
endlich hier und kann es nicht ertragen, noch weiter Zeit
zu vergeuden. Wenn du nicht mitkommen willst, ist das völlig in Ordnung, ich kann
auch allein gehen.“ Sie wollte in ihr Zimmer zurückkehren.
„Nein, wir
gehen zusammen“, entschied er. „Wir treffen uns in einer Viertelstunde
unten.“
„Ich danke
dir.“ Ihr Blick streifte sein unrasiertes Kinn, seine nackte Brust und
seine Reithose. Sie runzelte die Stirn. „So willst du aber
nicht gehen, oder? Ich meine, in Breeches und unrasiert. Ich denke, wenn du
dich etwas förmlicher anziehst, ist man vielleicht entgegenkommender zu
uns.“
Er zog die
Augenbrauen hoch.
„Das
stimmt“, bekräftigte sie ernsthaft. „Bei meinem letzten Aufenthalt in
London waren die Leute bisweilen sehr unhöflich und wenig
hilfsbereit. Wahrscheinlich, weil ich da mittlerweile ziemlich heruntergekommen
und verzweifelt ausgesehen habe. Wenn du also ... ich weiß nicht ... Respekt
einflößend und gebieterisch aussiehst, wäre das sicher hilfreich.“
Er hätte
sie am liebsten daran erinnert, dass sie sich bislang immer über seine
gebieterische Art echauffiert hatte, aber ihre Nerven waren zum Zerreißen
angespannt, und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Neckereien. „Ich
werde mir alle Mühe geben“, versprach er. „Und, Nell ...“ Er umfasste
ihre Taille und zog sie an sich. „Hör auf, dir Sorgen zu machen. Wir werden sie
finden.“ Er küsste sie fest auf den Mund.
Ihre Augen
füllten sich mit Tränen, und sie nickte nur stumm, dann verschwand sie in ihrem
Zimmer.
Harry ließ
sich heißes Wasser bringen und wies an, dass in einer Viertelstunde ein
einfaches Frühstück serviert werden sollte. Er rasierte sich – nicht sonderlich
gut, vielleicht sollte er doch langsam
daran denken, einen Kammerdiener für sich einzustellen – und zog sich rasch
an. Zum Glück hatte jemand nicht nur seine Kleidung ausgepackt, sondern auch
noch gebügelt, sodass er jetzt recht passabel aussah.
Er hatte
sich ziemlich beeilt, doch als er die Tür öffnete, stand Nell schon auf dem
Flur und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie trug wieder dieses
unansehnliche braune Kleid. Verdammt, er konnte es kaum erwarten, sie endlich
in hübschen Gewändern zu sehen.
„Ich habe
keinen Hut!“, verkündete sie, als wäre das eine mittlere Katastrophe. „Er
ist mir in Bath vom Kopf gefallen, weißt du noch? Du wolltest nicht stehen
bleiben, um ihn aufzuheben, und jetzt
Weitere Kostenlose Bücher