Anne Gracie
setzte sich sofort den Hut auf. „Und?
Sieht das anständig aus?“, fragte sie Harry.
„Sehr
hübsch.“ Er kannte sich mit Hüten überhaupt nicht aus, aber dieses
Exemplar gefiel ihm. Er verbarg ihr Gesicht nicht, anders als so viele dieser
lächerlichen Kreationen das taten, die die Frauen heutzutage trugen.
„Dann lass
uns gehen.“ Cooper half ihr in den Mantel und Nell knöpfte ihn nervös und
ungeschickt zu. „Bist du noch nicht fertig? Wir müssen los!“
Harry warf
einen bedauernden Blick auf seinen halb vollen Teller, leerte seine
Kaffeetasse und stand auf.
„Guten
Morgen, meine Lieben.“ Lady Gosforth schwebte in den Salon. Sie blieb
stehen und beäugte Nell kritisch. „Du liebe Güte, ist
das etwa mein alter Hut? Ich muss gestehen, er sieht ziemlich
elegant aus. Schau mich nicht so ungläubig an, Harry, ich bin schon öfter zu
einer so unchristlichen Uhrzeit aufgestanden, und
wenn in drei Wochen Hochzeit sein soll, haben wir noch sehr viel zu tun.
Sprotton, eine Tasse heiße Schokolade, bitte. Ich habe unseren heutigen
Einkaufsbummel bereits genau geplant, meine Liebe. Ich dachte, wir fangen mit
einem Besuch bei meiner Schneiderin an.“
„Aber das
geht nicht!“, rief Nell aus und drehte sich Hilfe suchend zu Harry um.
„Wir müssen gehen!“
„Nell hat
heute keine Zeit, Tante Maude“, erklärte Harry. „Dringende Geschäfte.
Morgen vielleicht oder irgendein anderes Mal.“ Er führte Nell zur Tür
hinaus.
„Um Gottes
willen, Harry, das Mädchen braucht dringend etwas zum Anziehen! Sagen Sie ihm,
meine Liebe ...“
Doch sie
waren bereits fort.
11. Kapitel
as war
großartig“,
stellte Nell atemlos fest, als sich der Zweispänner
in Bewegung setzte. „Als deine Tante hereinkam, dachte ich, wir würden niemals
wegkommen.“
„Ich trage eben meine ,gebieterische` Kleidung“,
erwiderte Harry trocken. „Ach, da sind wir ja schon.“
Zu Nells
Überraschung hielt Harry an und der Stallbursche sprang hinten von der Kutsche,
um die Pferde zu halten. Sie befanden sich noch immer in der Mount Street.
„Warum
halten wir hier an?“
Harry
zeigte auf ein großes Gebäude. „Das Armenhaus der Kirche St. George am Hanover
Square. Warum nicht gleich mit dem Nächstgelegenen anfangen?“
Nell war
plötzlich ganz mulmig zumute.
Das Gebäude
war groß, drei Stockwerke hoch, erbaut aus Backsteinen und guten Absichten,
dennoch wirkte es abweisend und hatte winzige Fenster. Wenn sich Kinder im Haus
befanden, konnte man sie jedenfalls nicht hören.
Harry
klopfte an die Tür. Nach einer Weile öffnete eine hagere, ganz in Grau
gekleidete Frau. Sie sah sie überrascht an. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Harry
Morant“, stellte Harry sich vor und zog seinen Hut. „Und das ist meine
Frau. Wir wünschen mit irgendeinem Verantwortlichen zu sprechen.“
Nell merkte
kaum, dass er sie seine Frau genannt hatte. Sie bemühte sich, das Zittern zu
unterdrücken, das sie überlief, seit das Wort „Armenhaus“ gefallen war.
Sie hatte
längst den Überblick über die vielen Einrichtungen verloren, die sie schon
aufgesucht hatte. Hätte sie geahnt, dass dieses Haus sich ganz in der Nähe
befand, wäre sie schon gestern Abend hergekommen.
Die Frau
trat zurück, um sie einzulassen. „Die Leiterin ist noch nicht da, aber
vielleicht kann ich Ihnen ja auch behilflich sein.“
Im Haus
roch es nach Dampf und Seifenlauge. „Waschtag?“, entfuhr es Nell. Gleich
darauf fragte sie sich, warum sie das gesagt hatte.
Die Frau
bedachte sie mit einem kühlen Blick. „In der Tat.“ Sie wandte sich an
Harry. „Was kann ich für Sie tun?“
„Die
verstorbene Cousine meiner Frau hat vor ein paar Wochen eine kleine Tochter zur
Welt gebracht“, erklärte er und drückte Nells Hand,
damit sie sich nicht verplapperte. „Wir
Weitere Kostenlose Bücher