Anne Gracie
beunruhigend und verwirrend.
In der
Vergangenheit hatte er immer genau gewusst, was er empfand und warum.
Er war
wütend oder glücklich oder besorgt oder müde gewesen – und es hatte immer
Gründe dafür gegeben, warum er sich so fühlte.
Er war besorgt gewesen, weil er am nächsten Morgen in eine neue Schlacht ziehen
musste. Er war wütend gewesen, weil jemand seine Befehle nicht befolgt hatte
und seine Männer deswegen hungern
mussten oder schlecht ausgerüstet waren.
Gefühle
hatten immer einen Sinn ergeben. Doch jetzt wusste er nicht, was er empfand,
und das brachte ihn vollkommen durcheinander.
Nell
bewegte sich wieder, und er hätte am liebsten laut aufgestöhnt. Manche Gefühle
waren eben doch begründet. Voller Sehnsucht
hielt er sie umfangen. Unter anderen Umständen hätte er sie jetzt vielleicht
verführt, solange sie noch so weich, schläfrig und vertrauensvoll in seinen
Armen lag. Doch das durfte er nicht, dann würde sie das Vertrauen in ihn
verlieren.
Ihr Vertrauen
war das kostbarste Geschenk, das sie ihm machen konnte.
Man hatte
ihr Gewalt angetan. Harry konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie
das für sie gewesen sein musste.
Seine
einzige Erfahrung mit erlittener Gewalt hatte er gemacht, als Antheas Vater und
Brüder ihn mit Anfang zwanzig so furchtbar
zusammengeschlagen hatten. Sie hatten ihn festgehalten, nackt und verwundbar,
und dann auf ihn eingeschlagen, bis er geblutet hatte. Und Anthea hatte dabei
mit vor Aufregung leuchtenden Augen zugesehen.
Das war der
erniedrigendste Augenblick seines Lebens gewesen. Der Schmerz war gar nicht das
Schlimmste daran – sondern die Vergewaltigung seines Selbstwertgefühls, seine
völlige Hilflosigkeit, weil sie diese Macht über ihn hatten.
Er erinnerte
sich noch daran, als wäre es erst gestern geschehen, dabei war es schon fast
zehn Jahre her. Für Nell war nicht einmal ein Jahr vergangen.
Er drückte
die Lippen sanft auf ihre nackte Schulter und atmete ihren Duft ein. Seine
Frau. Seine Frau, die er beschützen und umsorgen musste.
Er wusste
nicht, was genau ihr zugestoßen war, was dieser Kerl alles mit ihr angestellt
hatte, aber er wusste, dass sie sich gegen ihn zur Wehr gesetzt haben musste,
so wie er selbst sich auch gegen seine Angreifer gewehrt hatte. Nur um dann
doch machtlos und entehrt resignieren zu müssen.
Nachdem
seine körperlichen Wunden damals wieder verheilt waren, hatte er angefangen,
sich in Schlägereien zu stürzen, auch mit
mehreren Gegnern gleichzeitig. Wieder und wieder hatte er sich beweisen müssen,
dass er ein Mann war. Der Krieg hatte ihm schließlich seinen Hass und seine
Rachegelüste ausgetrieben. Jetzt ruhte er ganz in sich, er musste niemandem
mehr etwas beweisen, schon gar nicht sich selbst.
Was taten
Frauen in so einem Fall? Er hatte keine Ahnung.
Doch wenn
ihre beiden Erfahrungen auch nur entfernt ähnlich waren, dann musste sie die
freie Wahl haben, ob und wem sie sich hingeben würde. Und wann. Sie musste die
Kontrolle zurückerlangen, anstatt sie sich erneut nehmen zu lassen.
Daran würde
er denken, wenn er sie endlich verführen durfte. Bald, dachte er. Doch nicht
jetzt.
Er rückte
behutsam von ihr ab und stieg aus ihrem Bett. Da er hier nicht einfach in einen
eiskalten See springen konnte, musste ein rasanter Ausritt in der kalten
Morgenluft genügen, um seine Erregung abklingen zu lassen.
Auf
Zehenspitzen schlich er in sein eigenes Zimmer. Er hatte sich gerade seine
Breeches angezogen, als er Nells Tür aufgehen hörte. Mit zwei Schritten war er
an seiner Tür und riss sie auf.
Nell stand
im Nachthemd im Flur, aber wenigstens hatte sie sich jetzt ein Schultertuch
umgelegt. Ihre Füße waren jedoch
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