Anne in Windy Willows
großartiger alter Mann. Zu seinen Lebzeiten wäre eine solche Hetzjagd auf Sie undenkbar gewesen. Sarah und Ellen sind sehr stolz auf ihn, obwohl ich finde, dass sie darin ein wenig übertreiben.« Miss Valentine trippelte weiter.
Am Friedhofstor wandte Anne sich noch einmal um. Eine seltsame friedliche Ruhe lag über der windstillen Landschaft. Die Strahlen des Mondes durchdrangen die dunklen Tannenzweige und warfen geheimnisvolle Schatten auf die Grabsteine. Nach all den Geschichten, die Miss Valentine ihr erzählt hatte, war der Friedhof jedoch kein trauriger, sondern ein lebendiger Ort.
»Ich habe gehört, Sie schreiben«, begann Miss Valentine etwas besorgt, während sie den Weg entlanggingen. »Von dem, was ich Ihnen vorhin erzählt habe, nehmen Sie aber nichts in Ihre Geschichten auf, nicht wahr?« Sie sah Anne vorsichtig von der Seite an.
»Das verspreche ich Ihnen«, beruhigte sie Anne und verbarg ein Lächeln.
»Glauben Sie, es ist falsch oder gar gefährlich, wenn man schlecht über die Toten spricht?«, hakte Miss Valentine noch einmal nach.
»Nein«, meinte Anne, »es ist höchstens ungerecht - so, als ob man einen Wehrlosen schlägt. Aber schließlich haben Sie über niemanden wirklich böse gesprochen, Miss Courtaloe.« Jetzt völlig beruhigt trat Miss Valentine den Heimweg an.
Kapitel 6
Nach diesem Ausflug schrieb Anne gleich einen Brief an Gilbert.
Es klingt vielleicht komisch, wenn ich sage, dass mir mein Bummel über den Friedhof heute Abend Spaß gemacht hat, aber es war so. Miss Courtaloes Erzählungen waren komisch und schauerlich zugleich. Die Komödien und Tragödien des Lebens liegen oft so nah beieinander, Gilbert. Die Geschichte von den beiden, die da fünfzig Jahre lang zusammen lebten und sich die ganze Zeit über hassten, lässt mich nicht mehr los. Ich kann das einfach nicht glauben. Irgendjemand hat einmal gesagt, Hass ist nichts weiter als Liebe, die ihren Weg verfehlt hat. Ich bin sicher, dass sie unter all dem Hass wirklich Liebe füreinander empfanden, so wie ich dich all die Jahre über eigentlich geliebt habe, während ich es für Hass hielt, und sie haben es nur nicht herausgefunden. Ich bin froh, dass ich es herausgefunden habe. Und ich habe herausgefunden, dass es tatsächlich auch anständige Pringles gibt - allerdings unter der Erde.
Gestern Abend habe ich auch Tante Kate dabei ertappt, wie sie sich heimlich eine Buttermilchmaske auflegte. Ich musste ihr hoch und heilig versprechen, Chatty nichts davon zu sagen, »sie würde es bestimmt albern finden«. Ist das nicht lustig? Die kleine Elizabeth kommt jetzt jeden Abend ans Tor, um ihre Milch zu holen, obwohl die Frau lange wieder gesund ist. Es wundert mich, dass sie es ihr erlauben, wo doch die alte Mrs Campbell eine Pringle ist. Am Samstagabend lief Elizabeth - das heißt, sie war wohl gerade »Betty« - singend ins Haus zurück. In der Haustür hörte ich die Frau zu ihr sagen: »Dieses Lied ist wohl ziemlich unpassend so kurz vor dem Sonntag.« Ich bin sicher, sie würde Elizabeth an keinem einzigen Tag singen lassen!
Elizabeth hatte an diesem Abend ein neues weinrotes Kleid an, in dem sie sehr hübsch aussah. Als ich es bewunderte, sagte sie nachdenklich: »Ich wünschte, mein Vater könnte mich so sehen, Miss Shirley. Wenn >Morgen< da ist, sieht er mich natürlich, aber manchmal kann ich es kaum erwarten. Wenn wir doch nur die Zeit ein bisschen ankurbeln könnten.« Wenn sie so etwas sagt, werde ich immer ganz traurig.
Zur Zeit pauke ich Geometrie, denn ich denke mit Schrecken daran, was passieren würde, wenn ich vor der Klasse stünde und eine Aufgabe nicht lösen könnte. Nicht auszudenken, was die Pringles dann sagen würden!
Dusty Miller geht es schlecht. Kürzlich lief Rebecca eine Maus in der Speisekammer über die Füße und seitdem kocht sie vor Wut. »Dieser Kater hat nichts im Sinn außer Fressen und Schlafen. Jetzt reicht’s!«, schimpfte sie. Sie jagt ihn von Pontius zu Pilatus, entreißt ihm sein Lieblingskissen und - ich habe sie dabei ertappt - hilft mit dem Fuß nach, wenn sie ihn hinauslässt.
Kapitel 7
An einem Samstag im Dezember war Anne bei Wilfred Bryce, einem ihrer Schüler, zu Hause eingeladen. Anne hoffte, sie könne bei diesem Besuch seinen Onkel überreden, ihn weiterhin auf die High-School gehen zu lassen. Wilfred befürchtete nämlich, sein Onkel würde ihm den weiteren Besuch der Schule im neuen Jahr verbieten. Anne wollte sich für ihn einsetzen, weil er intelligent
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