Anne in Windy Willows
schönste Erinnerung im Laufe ihrer Karriere.
Die Folge von Jens Niederlage war die versteckte Beleidigung, die Anne dann in ihrem Aufsatz »Wichtige Ereignisse« zu lesen bekam.
Anne tauchte wieder aus ihren dunklen Gedanken auf und ging auf einem durchfurchten Weg zum alten Friedhof hinüber. Den Wegrand säumten in regelmäßigen Abständen schlanke, spitz zulaufende Pappeln, an denen noch ein paar Blätter hingen. Der alte Friedhof selbst war von großen dunklen Tannen bewachsen und die alten Grabsteine standen zum Teil ganz schief wie betrunkene Gestalten. Anne hatte nicht erwartet, irgendjemandem auf dem Friedhof zu begegnen, und war deshalb ein wenig erschrocken, als Miss Valentine Courtaloe plötzlich vor ihr stand. Wie alle anderen in Summerside kannte sie Miss Valentine natürlich; mit ihrer langen, schmalen Nase, ihrem feinen Mund und ihrer zarten Figur wirkte sie sehr damenhaft. Sie war die Schneiderin von Summerside - eine Nicht-Pringle und es gab nichts, was sie über die Leute nicht wusste. Anne hatte eigentlich allein über den Friedhof schlendern wollen, um die alten Grabinschriften zu entziffern. Aber Miss Valentine nahm sie sofort in Beschlag und Anne blieb nichts weiter übrig, als nett zu ihr zu sein, zumal ihr Neffe einer ihrer Lieblingsschüler war.
»Wie schön, Sie hier zu treffen«, wurde sie von Miss Valentine begrüßt. »Ich kann Ihnen über jeden, der hier begraben ist, etwas erzählen. Ich sage immer, ein Friedhof ist erst dann wirklich interessant, wenn man die Toten in- und auswendig kennt. Hier sind nur die alten Familien begraben. Auf dieser Seite liegen die Courtaloes. Wenn ich daran denke, wie viele Beerdigungen wir schon in unserer Familie hatten ...«
»So wird es wohl in jeder alten Familie sein«, stimmte Anne zu, weil Miss Valentine offenbar auf eine Antwort wartete. »Nein, es gibt keine einzige Familie, in der so viele Beerdigungen stattgefunden haben wie in unserer«, widersprach Miss Valentine eifersüchtig. »Die meisten von uns starben an Erkältungskrankheiten.« Daraufhin führte sie Anne von Grab zu Grab und erzählte ihr die Geschichten über ihre Tante Cora, die mit einem Yankee verheiratet war, über Tante Cecilia, die den Zeitpunkt ihres Todes genau vorhersah, über ihren Urgroßvater, der im Laufe seines Lebens 1400 Spinnräder hergestellt hatte, über Onkel Jack, Kusine Dora und Schwester Harriet. Von ihrem Vetter Vernon, der mit Elsie Pringle verlobt war, ging sie dann zu den Gräbern der Pringles und den dazugehörigen Lebensgeschichten über.
»Es ist furchtbar, wie die Pringles Sie behandeln«, sagte sie schließlich. »Aber nicht ganz Summerside besteht aus Pringles, Miss Shirley.« Sie blickt Anne freundlich an.
»Manchmal kommt es mir aber so vor«, seufzte Anne.
»Da täuschen Sie sich. Es gibt sogar eine Menge Leute, die auf Ihrer Seite stehen«, wendete Miss Valentine ein. »Geben Sie bloß nicht nach, egal, was die Pringles anstellen. Sie haben den Teufel in sich, hängen zusammen wie Pech und Schwefel, und Miss Sarah hätte eben gar zu gern ihren Neffen als Schuldirektor gesehen.« Sie wies auf das Grab von Stephen Pringle, der mit offenen Augen begraben worden war, und berichtete dann etwas über eine Helen Avery, die nach ihrem ersten »Tod« wieder zum Leben erwachte und erst beim zweiten Mal endgültig starb. Dann folgte die Geschichte von Nathan Pringle, der in ständiger Angst lebte, von seiner Frau vergiftet zu werden, bis sie schließlich vor ihm starb, dann die Geschichte von den Eheleuten Morleys, die sich vom Tag ihrer Hochzeit an hassten. Anne schauderte bei der Vorstellung, dass diese beiden Menschen ihr Leben lang hasserfüllt am selben Tisch gesessen und im selben Bett geschlafen hatten. Sie mussten sich doch irgendwann auch einmal geliebt haben! War es vorstellbar, dass sie und Gilbert sich jemals - Unsinn! Diese Pringles gingen ihr langsam auf die Nerven!
Schließlich gelangten sie an das Grab des berühmten Captain Abraham Pringle. Es bestand aus vier Steinplatten mit einem riesigen Marmorgrabstein, auf dem eine kitschige Urne stand, und überragte den ganzen Friedhof.
»Wie hässlich!«, rief Anne ohne Umschweife.
»Oh, finden Sie?«, Miss Valentine schien einigermaßen schockiert. »Das Grab fand großen Beifall, als es damals errichtet wurde. Der Posaunenengel auf der Urne ist der Engel Gabriel; ich finde ja, er gibt dem Friedhof so etwas Elegantes. Er hat ganze neunhundert Dollar gekostet. Captain Abraham war ein
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