Anne in Windy Willows
verschwinden, wenn ich meine Nase mit Buttermilch tränke?
Zurück zu Elizabeth. Eines Abends wehte der Sturm so heftig, dass wir nicht ausgehen konnten. Wir gingen stattdessen hinaufin mein Zimmer und zeichneten eine Karte vom Märchenland. Noch ist sie nicht ganz fertig: Jeden Tag fällt uns wieder etwas ein, was noch hineingehört. Gestern Abend zeichneten wir das Haus der Schneehexe ein, mit einem Hügel dahinter, der über und über voller blühender Kirschbäume steht. (Ich wünschte, im Garten unseres Traumhauses ständen auch solche Kirschbäume, Gilbert.) Natürlich fehlt auch »Morgen« nicht auf der Karte: Es liegt östlich von Heute und westlich von Gestern - und im Märchenland gibt es ganz viele Zeiten, die niemals enden, zum Beispiel die Frühlingszeit, die Weihnachtszeit, die Heimgehzeit, die Gute-Nacht-Zeit, und schließlich die Unendlichkeit. Und wir haben rote Pfeile gezeichnet, die auf die verschiedenen Zeiten zeigen. Ich weiß, Rebecca Dew findet das kindisch. Aber lass uns bloß nie so »alt und weise« werden, dass wir nichts mehr für Märchen übrig haben.
Rebecca Dew hat in dieser Hinsicht ihre Zweifel, ob ich der richtige Umgang für Elizabeth bin. Sie findet, ich verleite sie zu sehr zum Träumen. Einmal nämlich, als Rebecca ihr abends die Milch brachte, fand sie Elizabeth am Tor und erschrak, weil die Kleine geistesabwesend in den Himmel starrte und behauptete, wunderbare Klänge zu hören.
Aber so ist Elizabeth eben, was soll man da tun?
deine dich liebende Anne
Kapitel 12
30. Mai
Mein Allerliebster!
Es ist Frühling! Vielleicht ist es dir noch gar nicht aufgefallen, weil du wahrscheinlich bis zum Hals in Prüfungen steckst, aber ganz Summerside ist wie umgewandelt, sogar die unfreundlichsten Straßen stehen in voller Blüte und entlang der Gehwege sprießt der Löwenzahn.
Alles ruft mir zu »Frühling!« - der kleine gurgelnde Bach, die blauen Schleier des Sturmkönigs, die Ahornbäume, unter denen ich deine Briefe lese, die Kirschbäume mit ihren schneeweißen Blüten, die Rotkehlchen mit ihrem glatten Gefieder und ihren dunklen Knopfaugen, die grünen Kletterpflanzen am Mauertor, die Tannen am alten Friedhof mit ihren hellgrünen Spitzen, und sogar der Friedhof selbst, wo auf den Gräbern die Blumen sprießen.
Nur noch ein Monat bis zu den Ferien! Ich denke oft an den alten Obstgarten von Green Gables, der jetzt bestimmt ganz weiß ist, an die alte Brücke über dem See der Glitzernden Wasser, an einen Sommernachmittag in der Liebeslaube -und ganz viel an dich]
Einmal in der Woche besuche ich die Gibsons. Marilla hatte mich irgendwann einmal gebeten, dort vorbeizugehen, weil sie früher in White Sands lebten und sie sich von daher kennen. Besonders Pauline freut sich, wenn ich komme. Sie tut mir Leid, weil ihre Mutter, eine schreckliche alte Frau, sie wie eine Sklavin behandelt.
Mrs Adoniram Gibson ist achtzig Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie sind vor fünfzehn Jahren nach Summerside gezogen. Pauline ist mit ihren fünfundvierzigjahren diejüngste in der Familie. Alle ihre Brüder und Schwestern sind verheiratet, aber keiner von ihnen ist bereit, Mrs Adoniram bei sich aufzunehmen. Pauline führt also ihrer Mutter den Haushalt und ist ständig um ihr Wohlergehen bemüht. Sie ist ziemlich blass und hat braune Augen und hübsches, goldbraun schimmerndes Haar. Die beiden sind oft draußen, aber Pauline hat wegen ihrer Mutter ein ziemlich freudloses, schweres Leben. Sie würde sich am liebsten bei der Kirche engagieren, aber sie darf noch nicht einmal sonntags zur Messe gehen. Ich sehe auch keinen Ausweg aus dieser Situation, denn die alte Mrs Gibson wird mit Sicherheit hundert Jahre alt. So wenig sie ihre Beine bewegen kann, so beweglich ist ihre Zunge. Mich packt jedes Mal hilflose Wut, wenn ich höre, wie sie Pauline mit ihren zynischen Bemerkungen bombardiert. Pauline hat mir allerdings erzählt, ihre Mutter habe »eine ziemlich hohe Meinung« von mir und sei gleich viel freundlicher zu ihr, wenn ich da bin. Wenn das wirklich stimmt, denke ich mit Schaudern daran, wie sie sein muss, wenn ich nicht da bin!
Pauline darf praktisch nichts tun, ohne vorher ihre Mutter um Erlaubnis zu fragen. Selbst wenn sie sich ein Kleid oder ein Paar Strümpfe kaufen will, muss Mrs Gibson erst ihre Zustimmung geben. Alles muss so lange wie nur irgend möglich getragen werden.
Außerdem ist Mrs Gibson empfindlich gegen Lärm und Luftzug. Es heißt, sie habe noch nie in ihrem Leben
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