Anne in Windy Willows
spreche: Esme Taylor und Dr. Carter haben letzten Monat geheiratet! Dabei habe ich mich dann mit Cyrus Taylor angefreundet. Er erinnert sich noch lebhaft an das Abendessen von damals und hat mir gestanden, dass er sich seither nicht mehr traut zu schmollen.
»Womöglich behauptet Mama beim nächsten Mal, ich sei ein Künstler im Patchworknähen«, schmunzelte er. Wenn ich gehe, lässt er jedes Mal die Witwen grüße.
Gilbert, die Leute sind alle so lieb und das Leben ist so herrlich.
Für immer
deine Anne
Kapitel 13
»Wenn Sie erst mal alt und bettlägerig sind wie ich, dann werden Sie schon sehen, wie das ist«, jammerte Mrs Gibson. »Bitte glauben Sie nicht, dass ich Sie nicht verstehe, Mrs Gibson«, sagte Anne gequält, die seit einer halben Stunde verzweifelt dabei war, Mrs Gibsons Nacken zu kneten. Nur Paulines flehentlicher Blick im Hintergrund hielt sie davon ab, fluchtartig das Weite zu suchen. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich nicht einsam und vernachlässigt fühlen werden. Ich werde den ganzen Tag bei Ihnen sein und für Sie sorgen.« Sie klopfte der alten Frau beruhigend auf die Hand.
»Ach, ich weiß doch, dass ich jedem nur zur Last falle«, sagte Mrs Gibson. »Das Schmeicheln können Sie sich sparen, Miss Shirley. Ich bin schon auf den Tod vorbereitet und Pauline kann dann herumstreunen, so viel sie will. Die jungen Leute heutzutage sind einfach herzlos und flatterhaft.« Sie streckte energisch das Kinn vor.
Anne wusste zwar nicht, ob Mrs Gibson damit Pauline oder sie selbst meinte, machte aber einen letzten, friedfertigen Versuch: »Mrs Gibson, stellen Sie sich doch bloß das Gerede vor, wenn Pauline nicht zu der Silberhochzeit geht.«
»Gerede!«, zischte Mrs Gibson. »Was denn für ein Gerede?« »Liebe Mrs Gibson«, lächelte Anne, »ich denke doch, dass Sie im Laufe Ihres Lebens genug böse Zungen haben reden hören.«
»Sie brauchen mich nicht darauf hinzuweisen, wie alt ich bin«, warf Mrs Gibson in schnippischem Ton ein. »Und ich weiß sehr gut, wie viel die Leute reden. Sehr gut sogar. Und ich weiß ebenso gut, dass diese Stadt von Klatschmäulern wimmelt. Aber ich will mir nicht nachsagen lassen, ich sei ein alter Tyrann. Ich werde Pauline nicht aufhalten. Habe ich nicht schon gesagt, ich überlasse es ihrem Gewissen?«
»Ich fürchte, es wird nicht viele Leute geben, die das glauben«, versetzte ihr Anne einen kleinen Hieb.
Mrs Gibson schlürfte grimmig an einer Pfefferminzpastille herum und sagte dann: »Ich habe gehört, in White Sands geht der Mumps um.« Sie schien eine Änderung der Taktik für angebracht zu halten.
»Mama, du weißt genau, dass ich schon Mumps gehabt habe«, erinnerte sie Pauline.
»Manche kriegen ihn eben zweimal«, ließ sich ihre Mutter davon nicht so leicht abbringen. »Du bist genau der Typ dafür, du hast dir doch immer alles eingefangen, was gerade umging. Wenn ich bloß an all die Nächte denke, die ich neben dir gewacht und um dein Leben gebangt habe! Aber wer denkt schon an die Opfer, die eine Mutter bringt! Und überhaupt, wie willst du denn nach White Sands kommen? Du bist jahrelang nicht Zug gefahren. Und außerdem fährt am Samstagabend keiner mehr zurück.«
»Sie könnte den Morgenzug nehmen«, schlug Anne vor. »Außerdem bin ich sicher, dass Mrsjames Gregor bereit wäre, sie nach Hause zu bringen.« Sie schob Mrs Gibsons Rollstuhl in die Sonne.
»Jim Gregor konnte ich noch nie leiden«, kam deren prompte Antwort. »Seine Mutter war eine Tarbush.«
»Er fährt mit dem Auto, und bestimmt kann er Pauline auch am Freitag mit hinnehmen. Aber auch mit dem Zug gäbe es keine Probleme, Mrs Gibson. Pauline kann von Summerside nach White Sands ohne Umsteigen durchfahren.«
»Da steckt doch irgendwas dahinter«, murmelte Mrs Gibson jetzt misstrauisch. »Warum sind Sie denn so erpicht darauf, dass sie hinfährt, Miss Shirley, das würde mich doch interessieren?« Sie deutete heftig mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Annes Richtung.
Anne lächelte Mrs Gibson entwaffnend an und sagte: »Weil ich finde, dass Pauline wirklich alles für Sie tut und ab und zu einen freien Tag braucht, genau wie jeder andere auch.« Annes Lächeln konnte niemand so leicht widerstehen. Mrs Gibson musste sich entscheiden, entweder Pauline gehen zu lassen oder sich dem Gespött der Leute auszusetzen.
»Dass ich womöglich auch mal einen freien Tag ohne diesen Rollstuhl benötigen könnte, fällt keinem ein«, quengelte sie. »Aber ich kann mich nicht wehren,
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