Anne in Windy Willows
Campbell ein. Sie hat feine, fast männliche Gesichtszüge, schwarze Augen und schwarze, buschige Augenbrauen und ansonsten weißes Haar. Riesige schwarze Onyxohrringe hängen ihr bis auf die Schultern. Sie war fürchterlich höflich zu mir und ich war fürchterlich höflich zu ihr. Wir saßen da und sprachen eine Weile bedeutsam über das Wetter. Dann sagte ich - was auch stimmte -, ich sei gekommen, um sie zu bitten, mir James Wallace Campbells Memoiren auszuleihen; ich hätte gehört, sie enthielten eine Menge Wissenswertes über die frühe Geschichte von Prince County. Das könnte ich gut für den Schulunterricht verwenden.
Mrs Campbell taute daraufhin sichtlich auf und rief Elizabeth herbei, um die Memoiren zu holen. Das kleine Mädchen sah verweint aus. Mrs Campbell brachte als Erklärung vor, dass Elizabeths Lehrerin nun schon zum zweiten Mal eine Nachricht übersandt hätte, mit der Bitte, sie bei dem Schulkonzert mitsingen zu lassen. Sie, Mrs Campbell, hätte daraufhin eine saftige Antwort geschrieben, die Elizabeth am nächsten Morgen ihrer Lehrern überreichen sollte.
»Ich kann es nicht gutheißen, dass Kinder in Elizabeths Alter in der Öffentlichkeit singen«, erklärte Mrs Campbell. »Das führt bloß zu Dreistigkeit und Ungehorsam.«
Als ob irgendetwas auf der Welt Elizabeth dreist und ungehorsam machen könnte!
»Das ist sehr vernünftig, Mrs Campbell«, sagte ich jedoch in verständnisvollem Ton. »Auf jeden Fall wird Mabel Phillips Vorsingen und ich habe gehört, dass sie mit ihrer hervorragenden Stimme alle anderen in den Schatten stellt. Da ist es wirklich besser, Elizabeth tritt gar nicht erst mit ihr in Konkurrenz.«
Du hättest Mrs Campbells Gesicht sehen sollen! Sie mag zwar äußerlich eine Campbell sein, aber in ihrem Innern ist sie eine Pringle. Sie antwortete nichts darauf und ich hielt es für angebracht, nichts mehr hinzuzufügen. Ich dankte ihr also für die Memoiren und ging.
Als Elizabeth am nächsten Abend zum Mauertor kam, war sie wieder ganz fröhlich und erzählte mir, Mrs Campbell hätte ihr nun doch erlaubt zu singen, wenn sie versprach, sich keine Flausen ins Ohr setzen zu lassen.
Du musst wissen, Rebecca Dew hatte mir vorher verraten, dass es zwischen den Phillips und den Campbells seit jeher Streit gegeben hat, wer von ihnen die schönste Stimme hat. Ich habe Elizabeth ein kleines Weihnachtsbild mit einem Waldweg darauf geschenkt, der zu einem kleinen erleuchteten Häuschen führt. Sie hat es sich über das Bett gehängt und sagt, sie hätte jetzt nicht mehr so viel Angst, im Dunkeln schlafen zu gehen. Sie stellt sich jetzt vor, sie ginge den Weg entlang auf das erleuchtete Haus zu und beim Eintreten wartet drinnen ihr Vater auf sie.
Die arme Kleine! Ich kann nichts dafür, aber ich hasse ihren Vater langsam.
Kapitel 8
»Himmel, bin ich müde«, seufzte Kusine Ernestine Bügle und ließ sich auf einen Esszimmerstuhl fallen. »Manchmal habe ich regelrecht Angst, mich hinzusetzen, weil ich womöglich nicht mehr hochkomme.«
Ernestine war eine Kusine dritten Grades von Captain McComber. Sie war am Nachmittag überraschend von Lowvale herübergekommen, um den Witwen in Windy Willows einen Besuch abzustatten. Sie wurde von den beiden nicht gerade überschwänglich begrüßt, denn Kusine Ernestine gehörte zu jener Art Nervensägen, die nichts anderes im Kopf haben, als sich ständig um sich selbst und andere Leute Sorgen zu machen. Für sie war die ganze Welt ein einziges Jammertal. Noch dazu war sie alles andere als eine Schönheit. Sie hatte immer einen verkniffenen Gesichtsausdruck und zudem eine wehleidige Stimme. Außerdem trug sie ständig ein abgegriffenes Seehundfell um den Hals, das sie auch beim Essen nicht ablegte, vor lauter Angst, sie könnte sich verkühlen. Die Witwen betrachteten Kusine Ernestine also nicht gerade als »höheren Besuch«, sodass sie durchaus nichts dagegen gehabt hätten, wenn Rebecca Dew sich wie sonst zu ihnen gesetzt hätte. Aber Rebecca ließ verlauten, ihr verginge der Appetit in Gegenwart dieser »alten Trübsalbläserin«. Sie zog es vor, ihr Essen in der Küche einzunehmen, was sie jedoch nicht daran hinderte, beim Servieren ihren Teil an der Unterhaltung beizutragen.
»Wahrscheinlich sitzt Ihnen schon der Frühling in den Knochen«, bemerkte sie ohne jedes Mitleid.
»Wenn dem bloß so wäre. Miss Dew«, jammerte Ernestine. »Aber ich fürchte, mir geht es wie der armen Mrs Gage, die letzten Sommer einen giftigen Pilz im Essen
Weitere Kostenlose Bücher