Anne in Windy Willows
erwischt hat; seitdem ist sie nicht mehr die Alte.«
»Aber um diese Jahreszeit kannst du unmöglich schon Pilze gegessen haben«, wandte Tante Chatty ein, die auf dem Sofa gegenüber saß.
»Das nicht, aber wer weiß, was ich sonst gegessen habe. Du kannst dir die Mühe sparen, mich trösten zu wollen, Charlotte. Dafür habe ich zu viel durchgemacht. Kate, hast du dich auch vergewissert, dass in dem Milchkännchen keine Spinne schwimmt? Mir ist, als hätte ich vorhin eine gesehen.«
»In unseren Milchkännchen schwimmen keine Spinnen«, sagte Rebecca Dew in Unheil verkündendem Ton und knallte die Küchentür zu.
»Vielleicht war’s ja auch nur ein Schatten«, meinte Kusine Ernestine kleinlaut. »Meine Augen sind eben auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wahrscheinlich erblinde ich demnächst. Da fällt mir ein: Heute Nachmittag schaute ich bei Martha MacKay vorbei und sie sah ganz fiebrig aus und hatte so was wie Ausschlag. >Das sieht mir ganz nach Masern aus<, sagte ich zu ihr. bestimmt werden Sie blind davon. Die ganze Familie hat schließlich schlechte Augen.< Ich hielt es für besser, ihr gleich die Wahrheit zu sagen. Ihrer Mutter geht’s auch nicht gut. Der Doktor erzählte was von Magenverstimmung, aber ich hab den Verdacht, es ist ein Geschwür. >Vor der Operation kriegen Sie Chloroform vors Gesicht gedrückt< sagte ich zu ihr. Na, ob Sie das wohl überleben ... Vergessen Sie nicht: Sie sind eine Hillis und die Hillis’ haben alle ein schwaches Herz. Ihr Vater starb schließlich auch an Herzversagen.«
»Ja, mit siebenundachtzig!«, rief Rebecca Dew.
»Und du weißt, siebzig ist schon ein biblisches Alter«, warf Tante Chatty scherzhaft ein.
Anne sah Tante Chatty an und lachte.
Kusine Ernestine warf ihr sofort einen missbilligenden Blick zu. »Sie haben gut lachen«, quengelte sie. »Das wird Ihnen bald vergehen, wenn Sie erst mal feststellen, was für eine traurige Angelegenheit das Leben ist. Na ja, ich war ja auch mal jung.«
»Ach ja?«, warf Rebecca Dew ein, während sie die Milchbrötchen brachte. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie zu viel Angst hatten vor dem Jungsein. Man braucht nämlich ganz schön Mut dazu, Miss Bügle.« Und sie knallte ihr den Brotkorb auf den Tisch.
»Also, Rebecca Dew hat aber eine merkwürdige Art, die Dinge zu sehen«, beschwerte sich Kusine Ernestine. »Nicht, dass ich es ihr übel nehme. Und auch nichts gegen Miss Shirley mit ihrem Gelächter. Aber Sie greifen dem Schicksal vor, wenn Sie so weitermachen. Die Tante der Gattin unseres letzten Pastors hat so lange gelacht, bis sie einen Schlaganfall bekam. Beim dritten Mal war es aus. Unser neuer Priester in Lowvale draußen hat eine junge Frau, von der es heißt, sie sei fürchterlich in ihn verknallt. Wie man einen Priester heiraten kann, ist mir schleierhaft. Pietätlos nenne ich das.« Sie biss geziert in ein Milchbrötchen.
»Ich habe gehört, Peter Ellis und Fanny Bügle haben letzte Woche geheiratet«, versuchte Tante Chatty das Thema zu wechseln.
»Ja, richtig. Typischer Fall von >früh gefreit hat bald gereut<, wie ich es nenne. Sie kannten sich doch erst drei Jahre! Es wird nicht lange dauern, bis Peter die Augen aufgehen. Ich fürchte, Fanny ist eine ziemlich nachlässige Person. Sie bügelt doch tatsächlich die Taschentücher nur von rechts! Ihre selige Mutter war da ganz anders. Die Gründlichkeit in Person. Wenn sie Trauer hatte, trug sie sogar schwarze Nachthemden. Stellt euch vor, Fanny hat doch tatsächlich am Morgen ihres Hochzeitstages ein Ei gegessen. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Wenn ich da an meine selige Schwester denke ... Sie aß drei Tage vor ihrer Hochzeit keinen Bissen.
Und als ihr Mann gestorben war, hatten wir alle Angst, sie würde überhaupt nie mehr essen. Früher wusste man noch, woran man war mit seiner Verwandtschaft, aber heutzutage kenne sich einer aus.« Jetzt musste Ernestine doch einmal Luft holen.
»Stimmt es, dass Jean Young wieder heiratet?«, fragte Tante Kate in die Pause hinein.
»Ich fürchte, ja«, kam die Antwort. »Es heißt zwar, Fred Young sei tot, aber ich habe das ungute Gefühl, dass er wieder auftaucht. Dem konnte man noch nie über den Weg trauen. Ihr neuer Mann ist lra Roberts. Ich fürchte, er heiratet sie nur, um sie glücklich zu machen. Diesen Winter hat es furchtbar viele Hochzeiten in Lowvale gegeben. Ich glaube, zum Ausgleich gibt’s den ganzen Sommer Beerdigungen.«
»Ihre ermutigende Art ist wirklich unschlagbar«, sagte
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