Anne in Windy Willows
»der Frau«. Sie hatte das Gefühl, es sei »Morgen« schon da, und als ob vierzehn weitere »Morgen« auf sie warteten.
Als sie endlich auf Green Gables eintrafen, fühlte sich Elizabeth wie im Traum. Alles auf Green Gables schien ihr vertraut. Sogar Marilias Rosenknospenservice kam ihr vor wie ein alter Freund. Die Zimmer kamen ihr so bekannt vor, als hätte sie immer schon darin gelebt.
Und die Menschen auf Green Gables waren wie die Menschen von »Morgen«. Sie hatte sie gern und alle liebten Elizabeth, besonders Davy und Dora. Manila und Mrs Lynde wussten zwar, dass Anne nicht mit Mrs Campbells Erziehungsmethoden einverstanden war, es zeigte sich aber trotzdem, dass Elizabeth ein sehr wohlerzogenes Kind war.
»Ach, am liebsten würde ich gar nicht schlafen«, flüsterte Elizabeth, als sie und Anne nach einem aufregenden Abend endlich im Bett lagen. »Nicht eine Minute von diesen wunderbaren zwei Wochen möchte ich verschlafen. Ich wünschte, ich könnte diese ganze Zeit ohne Schlaf auskommen.«
Sie blieb eine ganze Weile wach liegen. Es war einfach himmlisch, dem Wind in der Ferne zu lauschen. Elizabeth hatte immer Angst gehabt vor der Nacht - jeden Augenblick konnte einem etwas Unheimliches entgegenspringen -, aber hier verlor sie ihre Angst. Das erste Mal im Leben war die Nacht ihr Freund.
Miss Shirley hatte versprochen, morgen mit ihr zur Küste hinunterzugehen; dort würde sie die schäumenden Wellen spüren, die sie auf der Hinfahrt hinter den grünen Dünen von Avonlea gesehen hatte. Elizabeth konnte die Wellen richtig auf sich zurollen sehen, eine nach der anderen. Eine davon war eine große dunkle Schlafwelle. Sie überrollte Elizabeth, und die ließ es mit einem glücklichen Seufzer geschehen.
So lag sie jeden Abend wach, während Anne schon längst eingeschlafen war, und dachte nach. Warum konnte das Leben in Evergreens nicht so sein wie das Leben auf Green Gables? Elizabeth hatte in ihrem Leben bisher immer leise sein müssen; sie musste sich leise bewegen, leise sprechen, ja sogar leise denken - so jedenfalls kam es ihr vor. Manchmal verspürte Elizabeth den dringenden Wunsch, einen lauten, lang gezogenen Schrei auszustoßen.
»Auf Green Gables darfst du so viel Krach machen, wie du willst«, hatte Anne zu ihr gesagt. Aber merkwürdig: Jetzt, wo sie durfte, wollte sie gar nicht mehr schreien. Hier ging sie sogar absichtlich leise, um all die schönen Dinge um sie herum nicht zu stören. Aber sie lernte wenigstens das Lachen. Und als sie nach Summerside zurückkehrte, trug sie einen ganzen Sack wunderschöner Erinnerungen mit sich. Alle auf Green Gables dachten noch lange gern an die Zeit mit der »kleinen Elizabeth« zurück: an das kleine Mädchen, das zusammengekauert auf einem Apfelbaum saß und Märchen las; das sich von Dora mit Erdbeeren und Schlagsahne füttern ließ und mit ihr rote Johannisbeeren aß, das sich von Davy beibringen ließ, wie man mit den Ohren wackelte. Und es blieb eine Elizabeth in Erinnerung, die vor Freude quietschte, als der Wind das Gefieder der alten, ehrwürdigen Hennen aufplusterte -kaum zu glauben, dass sie so lachen konnte.
Ob ich wohl jemals wieder eine so schöne Zeit haben werde?, dachte Elizabeth, als sie von Green Gables wegfuhr. Der Weg zum Bahnhof war genauso schön wie vor zwei Wochen, aber Elizabeth konnte ihn vor lauter Tränen kaum erkennen.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Kind so vermissen würde«, sagte Mrs Lynde nach ein paar Wochen.
Nach Elizabeth kam Katherine Brooke mit ihrem Hund zu Besuch nach Green Gables. Katherine hatte ihre Stelle an der High-School zum Ende des Schuljahres gekündigt und wollte im Herbst nach Redmond gehen, um dort einen Sekretärinnenkurs zu besuchen. Anne hatte ihr dazu geraten.
»Ich weiß, das wird dir gefallen, und unterrichtet hast du doch nie gerne«, hatte sie zu ihr gesagt, als sie eines Abends zusammen auf einem Kleefeld saßen und den herrlichen Sonnenuntergang beobachteten.
»Das Leben ist mir noch eine ganze Menge schuldig und ich werde alles annehmen, was es mir zu bieten hat«, erklärte Katherine entschlossen. »Ich fühle mich um so viel jünger als noch vor einem Jahr.«
»Ich bin sicher, was du vorhast, ist das Allerbeste für dich«, stimmte Anne ihr zu. »Aber der Gedanke an Summerside und die Schule ohne dich fällt mir schwer. Ich werde dich vermissen - unsere Diskussionen und das fröhliche Gequatsche in meinem Turmzimmer und unsere albernen Momente, wenn wir uns über alle und
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