Anne in Windy Willows
bisschen. Aus Rache hat Miss Prouty dann die schlimmsten Sachen über sie verbreitet. Natürlich sind sie temperamentvoll, aber das sollten Kinder schließlich auch sein, finden Sie nicht? Nichts ist schlimmer als kleine Duckmäuser, habe ich Recht? Lassen Sie sie bitte nicht mit ihren Booten in der Badewanne fahren und im Teich waten, ja? Ich habe ja solche Angst, sie könnten sich erkälten. Ihr Vater starb auch an Lungenentzündung.«
Mrs Raymonds große blaue Augen füllten sich mit Tränen, die sie jedoch tapfer durch heftiges Blinzeln zurückzuhalten wusste.
»Machen Sie sich nichts daraus, wenn sie ein bisschen zanken«, fuhr sie in ihrer Rede fort. »Ich hätte ja einen von ihnen mit auf die Beerdigung nehmen können, aber davon wollten sie absolut nichts wissen. Sie waren noch nie in ihrem Leben voneinander getrennt. Und zwei Kinder auf eine Beerdigung mitzunehmen wäre wohl doch zu viel des Guten, habe ich Recht?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Raymond«, sagte Anne freundlich. »Ich bin sicher, Gerald, Geraldine und ich werden einen schönen Tag miteinander haben. Ich liebe Kinder.«
»Ja, ich weiß, das habe ich Ihnen gleich angesehen. Man sieht immer gleich, wenn jemand Kinder mag, ist es nicht so? Die arme Miss Prouty verabscheut sie. Sie sieht immer bloß das Schlimme in ihnen, und infolgedessen verhalten sie sich auch entsprechend. Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, meine Kleinen unter der Obhut eines Menschen zu wissen, der Kinder liebt und versteht.« Mrs Raymond trippelte zum Gartentor.
»Nimm uns doch mit auf die Beerdigung«, rief Gerald, der gerade seinen Kopf aus einem der oberen Fenster herausstreckte. »Das wäre doch bestimmt lustig.«
»Oje, sie sind im Badezimmer!«, rief Mrs Raymond entsetzt. »Liebe Miss Shirley, bitte laufen Sie hin und holen Sie sie da heraus. Gerald, Liebling, du weißt doch, dass Mama nicht euch beide mit auf die Beerdigung nehmen kann. Oh, Miss Shirley, er hat schon wieder das Wolfsfell aus dem Salon um die Schultern hängen! Er wird es noch zerreißen. Bitte sehen Sie zu, dass er es sofort abnimmt. Ich muss mich beeilen, sonst verpasse ich noch den Zug.«
Und eleganten Schrittes eilte Mrs Raymond davon, während Anne die Treppe hinauflief und gerade noch rechtzeitig eintraf, bevor Engelchen Geraldine ihren Bruder, den sie an den Beinen gepackt hielt, aus dem Fenster schleuderte.
»Miss Shirley, Gerald soll aufhören, mir die Zunge rauszustrecken«, rief sie wütend.
»Tut dir das denn weh?«, fragte Anne lächelnd.
»Ich will einfach nicht, dass er mir die Zunge rausstreckt«, schimpfte Geraldine und warf Gerald einen unheilvollen Blick zu, der ihr einen nicht minder unheilvollen Blick zurückgab. »Das ist meine Zunge, und du kannst mich nicht daran hindern, sie rauszustrecken, wenn mir danach ist, stimmt’s, Miss Shirley?«
Anne ging nicht auf seine Frage ein. »Hört mal, ihr Lieben, in einer Stunde gibt es Mittagessen. Sollen wir uns so lange in den Garten setzen und spielen und Geschichten erzählen? Und, Gerald, was hältst du eigentlich davon, das Wolfsfell wieder in den Salon zu bringen?«
»Nichts, ich will nämlich Wolf spielen«, erklärte Gerald und streckte sein Kinn vor.
»Ja, er will Wolf spielen«, rief Geraldine, die nun plötzlich auf seiner Seite stand.
»Wir wollen Wolf spielen«, riefen beide jetzt wie aus einem Munde.
Die Türglocke läutete und befreite Anne aus ihrem Dilemma. »Komm, lass uns nachsehen, wer da ist«, rief Geraldine. Die Zwillinge sausten zur Treppe und jagten das Geländer hinunter. Das Wolfsfell löste sich dabei und flatterte davon.
»Wir kaufen nichts von Hausierern«, sagte Gerald, der als Erster unten war und die Tür aufgerissen hatte.
»Kann ich eure Mutter sprechen?«, fragte die Frau an der Tür.
»Nein, können Sie nicht. Mama ist aufTante Ellas Beerdigung. Miss Shirley passt auf uns auf. Da kommt sie gerade die Treppe runter. Die wird Ihnen schon Beine machen.« Gerald nahm kein Blatt vor den Mund.
Anne hätte ihr tatsächlich am liebsten Beine gemacht, als sie sah, dass es sich bei dem Besucher um Miss Pamela Drake handelte. Sie war ziemlich unbeliebt in Summerside, weil sie den Leuten immer alles Mögliche anzudrehen versuchte; meistens gelang ihr das auch, denn es gab nichts, wodurch sie sich abschrecken ließ, und so etwas wie Zeitdruck kannte sie offenbar auch nicht.
Diesmal nahm sie Bestellungen für eine Enzyklopädie entgegen, ohne die kein Lehrer auskommen
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